Auf seinem Wachposten, von dem er die ganze Kapelle einsehen kann, grübelt
Rogar darüber nach, ob das Bild der Verwüstung zu dem passt, was er über Dämonen gehört, gelesen oder mit eigenen Augen gesehen hat. Freydis scheint zu meinen, es müssen Dämonen gewesen sein, die hier die heiligen Symbole des Einen zerstört hätten—nun, damit kennt Rogar sich nicht aus. Bei den Zwergen gibt es weder den Einen noch Gaja, deren Segen die rothaarige Heilerin zu erbitten meint oder vielleicht tatsächlich erbittet. Und trotzdem setzen die Dämonen den Zwergen zu. Sie hassen das Leben, alles Leben, gleichermaßen—was sollten sie sich um Göttersymbole scheren? Nein, Rogar glaubt nicht, dass hier Dämonen am Werk waren. Zumindest nicht direkt. Falls nämlich einer von denen hier gewütet hätte, und sei es auch nur einer ihrer läppischsten Fußsoldaten, dann wäre alles an diesem Ort
verdorben, dann hinge ein noch viel fauliger Geruch über allem, dann wären draußen die Büsche ums Gemäuer verdorrt oder krankhaft verwachsen, dann sprösse und kreuchte und fleuchte dort alles, was widerlich ist, alles was sich aus Verderbnis nährt, während alles schöne, alles heilsame überwuchert, erdrückt, verdurstet oder vergiftet wäre. Daher sein Schluss: wenn Dämonen dies verursacht haben, dann indirekt.
Und darin sind sie Meister. Die zwergischen Annalen enthalten mehrere dutzend historischer Berichte, wie Dämonen willenschwache Zwerge durch Einflüsterungen—im Traum, wie gerne behauptet wird, oder wie darf man sich das vorstellen? Jedenfalls aus der Ferne—dazu gebracht haben, sich gegen die Gemeinschaft zu wenden und die schrecklichsten Taten zu begehen, die Täter selbst stets im Glauben, aus eigenem Antrieb zu handeln, den eigenen Wünschen nachzugehen. Nicht umsonst sind seit gut zwei Jahrhunderten jede Wohn- und Arbeitshöhle durch Runensteine geschützt: um diese perfiden Einflüsterungen zu unterbinden. Gibt es bei den Menschen hier einen ähnlichen Schutz?
[1]Doch auch
Freydis ist sich, kaum dass sie ihre Behauptung in den Raum geworfen hat, gar nicht mehr so sicher, dass es sich hierbei um Dämonenwerk handelt und nicht doch um Berührtenmagie. Zum einen, weil, wenn sie ehrlich in ihrem Inneren nachforscht, sie da doch einen brennenden Hass auf die Anhänger des Einen findet—und das, obwohl sie von Hexentötungen
[2] nur gehört hat, aber nie eine mitansehen musste. Und auch wenn sie nicht die geringste Ahnung hat,
wie ein Berührter das hier bewirkt haben sollte oder
ob es machbar wäre—ihre eigenen Zauber sind lächerlich kraftlos dagegen—so weiß sie zumindest eines: So wie der Sturm die elementaren Kräfte der Natur entfesselt, so entfesselt er auch die magischen Kräfte in einem Sturmgeborenen. Es braucht allerdings viel Mut und eine eherne Geisteskraft, sich mitten in diesen Orkan aus widerstreitenden Elementen zu stellen. Vor vier Jahren hat Freydis einmal vorsichtig versucht, während ein Sturm mit aller Macht gegen die Ravensklippe schlug, einen winzigen Funken zu entfachen—und hätte fast die gesamte Feste abgefackelt samt Dorf drumherum. Einzig dem Wolkenbruch war ihrer aller Rettung zu verdanken. Und die Schuld wurde offiziell einem Blitzeinschlag gegeben. Alles andere hätte zu Freydis' Ausstoß aus der Sippe geführt, Fürstentochter hin oder her. Und ob sie als Friedlose lange überlebt hätte, wo jeder sie hätte schänden, versklaven oder erschlagen können, ohne dass ihre Familie hätte Buße fordern können oder auch nur wollen...
[3]So schweifen Freydis' Gedanken ab und dies mag erklären, warum sie ihre Erkenntnisse zunächst verschweigt.
Derweil sucht
Lîf im hinteren Teil der Kapelle, wo die Verwüstungen sich in Grenzen halten, nach Hinweisen, was hier passiert sein könnte, oder nach persönlichen Besitztümern der Mönche. Von letzteren findet sie einige, zum Beispiel ein gutes Dutzend verlorener Sandalen, was ihr eines deutlich zeigt: die Mönche müssen von dem, was sie hier in der Sturmnacht erlebt haben, so entsetzt gewesen sein, dass keiner von ihnen sich später noch einmal hier herein traute, um diese doch höchst wichtigen Stücke zu bergen. Denn wer besitzt schon mehr als ein Paar Schuhe oder allenfalls eins für den Sommer und eins für den Winter? Das zweite, was sie findet, ist ein eiserner Ring—ein Schlüsselring, nur ohne Schlüssel—um den ein vor einer Woche wohl noch frischer, jetzt vertrockneter Efeuzweig gewickelt ist. Statt Schlüssel hängt ein einzelnes Amulett am Ring, nämlich ein Holzplättchen mit einer darein geritzten Rune, doch handelt es sich um keine Druidenrune. Das Andenken eines Mönches an seine verstorbene Frau?
Ihr dritter Fund dagegen stellt Lîf vor ein Rätsel: gleich mehrere Ketten findet sie auf dem Boden, bestehend aus verschieden großen Holzkugeln, die man auf einem Lederband aufgereiht hat. Das ganze ist aber zu eng, als dass sie es über den Kopf streifen könnte, als Armschmuck dagegen viel zu weit. Jede der Holzkugeln trägt eine Kerbe, die Lîf versteht, weil jedes Kind in Fersland sie verstehen würde: die kleinen Kugeln sind mit einem | wie "eins" versehen, die mittleren mit einem + wie "fünf", von den beiden großen aber ist die erste mit einem - als "zehn" markiert, die zweite mit einem = als zwanzig. Genauso wird auf dem Kerbholz markiert, wieviele Mann oder Schafe oder Kornsäcke man den Amtsmännern des Fürsten schuldig ist. Doch was zählen die Mönche während ihrer heiligen Riten? Lîf wendet sich fragend an ihren Mann.
"Damit zählt man seine Gebete", erklärt dieser achselzuckend, doch als sein Weib ihn weiterhin verständnislos anblickt, nimmt Tristan sich eine der Ketten.
"Schau!" Die Kette in beiden Händen haltend, beginnt er, monoton vor sich hinzumurmeln. Weil er so leise und so monoton spricht, versteht Lîf nur einzelne Worte: Gnade, Vergebung, Demut, Sünden, Sühne, Herrschaft auf Erden, in alle Ewigkeit. Große Worte, aber durch die Weise, in der sie aufgesagt werden, und weil sie alle viel zu dicht aneinander gedrängt stehen, um ihre Bedeutungen tatsächlich zu entfalten, rauschen sie nur so am Ohr vorbei, ohne die ihnen eigentlich gebührenden großen Gefühle zu erwecken. Irgendwann schiebt Tristan eine der kleinen Kugeln zur Seite. Lîf begreift nicht sofort, warum, doch dann fällt ihr auf, dass seine Sätze begonnen haben, sich zu wiederholen. So richtig sicher ist sie sich aber erst, als Tristan die zweite Kugel verschiebt: ja, hier beginnt das Ganze von vorne. Und es warten noch siebzehn Kugeln darauf, verschoben zu werden!
"Wenn Novizenmeister Holmgot mich fragte, welche Strafe mir lieber sei: zwanzig mal von der Birke gestreichelt werden oder hundert mal das Glaubensbekenntnis beten", sagt Tristan trocken,
"dann hab' ich immer nach den Schlägen verlangt."~~~
Als sich die Gefährten einig werden, dass man alles gesehen habe, was es in der Kapelle zu sehen gibt, führt Rogar sie durch die westliche Seitentür in einen kurzen Gang, dann links durch eine weitere Tür. Geradeaus befinden sich beiderseits je eine Tür.
Aeryn huscht vor und, nachdem sie an den Türen gelauscht hat, untersucht in fliegender Eile die stillen Kammern dahinter. Die erste, linkerhand, ist wohl das Zimmer des Abtes: ein mächtiges Bett steht hier an der östlichen Stirnseite, ein Pult gegenüber beim Fenster, und allerlei Truhen und Regale hier und dort, dazu hängen bestickte Stoffe an den Wänden und der fünfarmige Kerzenständer ist aus Silber und die Karaffe mit fünf Trinkgefäßen aus buntem Zwergenglas. Offen auf dem Pult steht ein Kästchen mit Schmuck: Halskette, zwei Ringe, eine Gewandfibel, alles mit dicken Edelsteinen besetzt. Neben dem Bett hängt ein einzelnes Regalbrett an der Wand, darauf stehen zwei Phiolen, ebenfalls aus kostbarem Zwergenglas. Die Korken sind beschriftet.
"Quellwasser", entziffert Aeryn mühsam die Menschenrunen. Das Bett selbst untersucht Aeryn nicht, denn es ist zu arg besudelt. Offenbar hat man hier nach der Blitzschlag den verletzten Abt gebettet. Auch das Zimmer gegenüber ist wenig interessant. Wesentlich kärger eingerichtet, aber immer noch üppig, wenn man es mit einem Bauernhaus vergliche, stehen hier acht Betten. Unter der herumliegenden Habe sticht Aeryn jedoch nichts als nützlich ins Auge.
[4] Und weiter geht's. Als die Gefährten vor der gegenüberliegenden Tür links abbiegen, erkennen Lîf und Abdo den Gang wieder: direkt vor ihnen liegt die Treppe zum Keller, welche aber auch nach oben führt. Mit besonders wachen Sinnen rücken sie weiter vor und gelangen—mit klopfenden Herzen, aber unbescholten—ins Obergeschoss.
Dort herrscht dieselbe Totenstille wie in der Kapelle und den Schlafkammern des Abtes und seiner handverlesenen kleinen Schar. Im oberen Stock gibt es hauptsächlich lange Gänge mit vielen Türen.
Freydis und
Abdo machen sich die Mühe, eine jede davon zu öffnen, ob sich dahinter ein Feind oder ein Überlebender verbürge, doch sie finden nichts außer einer Schrift (ursprünglich unter der Matratze versteckt, doch das Bett war umgestoßen) mit äußerst anzüglichen Geschichten, wie Freydis auf einen Blick erkennt, und diverse Verstecke mit vergammelten Leckereien. Novizenkammern, so viel steht fest.
[5] Und dann steht man auch schon vor der Treppe, die höher in den Novizenturm hinaufführt. Ob es weise sei, mag man sich fragen, sich in eine vom Feind derart leicht abzuschneidende Stellung zu begeben—und vielleicht bleibt auch jemand hier zurück, um zu verhindern, dass der Feind dies ausnutzt—doch
Lîf und auch
Abdo drängt es auf jeden Fall weiter hinauf. Doch auch hier sind alle Kammern leer. Dann steht man schließlich unter dem Dach—mit leeren Händen, unschlüssig, enttäuscht, denn entgegen aller Vernunft hat man doch gehofft...
Da fällt Lîf etwas auf. Die Wand des obersten Turmzimmer ist an einer Stelle ganz nass, von der Decke bis zum Boden, auf welchem sich eine kleine Pfütze gebildet hat. Ein scharfer Geruch steigt ihr in die Nase.
[6]