Rogars krachende Schläge hallen den Gefährten in der darauffolgenden Stille noch lange in den Ohren. Auch die Gefangene rührt sich nicht sofort, obwohl sie sehnsüchtig das zerschlagene Schloss anschaut. Bei Abdos ungerechtem Vorwurf aber stampft sie wieder mit dem Fuß auf.
"Ich bin es nicht, die Zwietracht unter euch säht!" ruft sie aus, hochaufgerichtet, ihre geballte Rechte in die Hüfte gestemmt. "Dass ihr so miteinander streitet, das seid schon ihr selbst schuld, dafür kann ich gar nichts!" Ihre Miene ist dabei so trotzig empört, dass jemand, der sie zuvor vielleicht für zwanzig gehalten hätte (oder das entsprechende Alter einer Elbin oder Zwergenfrau), seine Schätzung rasch um fünf oder sechs Jährchen nach unten korrigiert.
Nachdem sie ihrer Empörung Luft gemacht hat, schiebt sie sich vorsichtig in Aeryns Richtung. Offenbar ist sie mit Rogars Anweisung an die Elbin voll einverstanden: ja, es soll sich jemand darum kümmern, damit sie endlich aus dieser Zelle darf! Bei so viel Misstrauen, das ihr hier entgegengebracht wird—und der erschreckenden Streitsucht der Leute hier!—muss man ja sonst damit rechnen, dass sich jemand auf sie stürzt, sollte sie sich selbst an dem Schloss zu schaffen machen.
"Ninae heiße ich", beantwortet sie Tristans Frage zuerst. Dann wendet sie sich bittend an Lîf: "Gar nichts kann ich dagegen tun, dass die Männer mich anbeten. Dass sie in mir sehen wollen, was immer sie sich von einer Frau erträumen. Schau, ich zeig's dir!"
Doch ganz so schnell geht das nicht mit der Demonstration. Das Kleidungstück will gut gewählt sein, und so geht Ninaes Blick mehrmals zwischen den verschiedenen ihr angebotenen Dingen hin und her, wie jedes Weib es tun würde, das überlegt, was ihr wohl besser steht. Schließlich aber greift sie zu Aeryns in Waldtönen gehaltener Kleidung, die gewiss besser zu den grünen Augen passen wird. Graziös schlüpft sie in Tunika und Hosen und reicht, mit Dank, den Umhang an die Elbin zurück.
Vollständig bekleidet präsentiert sie sich darauf den drei Misstrauischen, welche wiederum ihre drei bezauberten Gefährten aus dem Augenwinkel betrachten, ob sich an deren Mienenspiel oder Gebaren etwas ändere, doch hängen die beiden Männern mit unverändert anbetenden Blicken an der schönen Ninae, während Aeryn einfach nur erleichtert wirkt, dass sie mit ihrer Kleidung aushelfen konnte.
"Männer wollen halt, was sie wollen", erklärt Ninae leichthin. "Was kann ich dafür, dass sie mich schön finden? Dass andere Weiber sich an mir messen wollen. Red' ich ihnen das ein? Sag' ich ihnen irgendwas böses? Nein! Ich bin bloß, wie ich bin, für eure Reaktionen kann ich nichts. Bitte, ich will doch bloß hier raus und heim zu meinen Schwestern! Wenn die drei mich nicht mehr sehen, dann vergessen sie mich auch bald."
Stirnrunzelnd wendet sie sich darauf Freydis zu, deren Frage als letzte noch nicht beantwortet ist. "Warum die Mönche mich erwischt haben? Weil sie einem der ihren heimtückisch nachgeschlichen kamen, der nämlich wegen seiner immer näher rückenden Priesterweihe in Zweifel geraten war, ob er denn überhaupt zum Mönch tauge, ob er nicht doch sein Lebtag bereuen täte, sich nicht für Frau und Familie entschieden zu haben. Das wollte er mit meiner Hilfe herausfinden und gütige Gaja, ich sag euch was, ganz gewiss hätte er nicht zum Mönch getaugt! Aber du wolltest ja wissen, warum sie nur mich erwischt haben und nicht meine Schwestern. Was für eine seltsame Frage! Wo du herkommst sind die Sitten ganz anders als hier, wie ich sehe. Ist das so bei euch? Nimmt man da immer die Schwestern mit, wenn man sich heimlich mit einem Liebhaber trifft?" Das fragt sie gar nicht spöttisch, sondern in aller Unschuld. Nachdenklich sinnt sogar weiter: "Wenn ich das nur getan hätte! Dann wäre ich niemals gefangen genommen worden. Drei von uns hätten sie niemals überwältigen können." Ihre Miene hellt sich auf: "Ich werde es den Schwestern vorschlagen, sobald ich heimkomme, mal schauen, was sie davon halten!"
Doch sofort verdüstert sich ihre Miene wieder. "Aber unserem guten Uther tust du unrecht. Er ist nicht so dumm und gemein wie sein Vater, er hält zu uns, weil er nämlich weiß, dass wir gut sind für sein Land, gut für alle seine Leute, die hier leben, und überhaupt ist er viel zu klug, um vor einem Weib Angst zu haben, bloß weil sie ein bisschen zaubern kann. Es muss also so sein, dass er versucht hat, mich zu befreien, aber gescheitert ist. Oder vielleicht ist er gerade auf dem Weg hierher? Wann hast du ihn denn zuletzt gesehen?"