Während
Lîf über Flüche und Verzauberungen nachdenkt
[1], kommen ihr als erstes Freydis' Worte vom Vortag in den Sinn:
Feen verfluchen nicht, sie bezaubern. Nun hat Lîf aber nicht den Eindruck, als kenne die Berührte sich mit Feen aus (zumal Gajas Diener sehr darauf achten, dieses Wissen für sich zu behalten), und die alte Esja hatte einen solchen Unterschied nicht gemacht.
Wenn Esja von
Flüchen sprach, meinte sie damit Schadzauber in Form von Krankheit, Wahn, tierischen Plagegeistern oder ähnlichem Unglück, von Feen aus Rache, als Abschreckung oder zur Bestrafung menschlicher Freveltaten ausgesprochen. Ein Schadzauber, der, wenn man Glück hat, nur bloßstellend wirkt (Pocken im Gesicht, Eiterbeulen, Verlust der Manneskraft), auf dass man eine Lehre daraus ziehen möge, oft genug aber auch tödlich endet, auf dass andere eine Lehre daraus ziehen mochten.
Lîf überlegt sich, ob sie diese Art des Schadzaubers von nun an als
Feenfluch bezeichnen soll, um ihn nicht mit dem zu verwechseln, was Freydis einen
echten Fluch nennt. "Schadzauber" jedenfalls scheint auf beides zu passen. Auch, dass ein Fluch etwas persönliches ist, auf ein bestimmtes Opfer gezielt. (Dies, laut Solveig, unterscheidet ihn vom Dämonenwerk.
[2])
Aber ist das, was sich hier auf dem Hof der Villags abspielt – denn auch das Verhalten der Magd draußen war schon sehr seltsam – überhaupt die Auswirkung eines Fluches, gleich welcher Art, oder sind die Menschen hier vielmehr
verhext, wie Aeryn es nennt. (Wobei unklar bleibt, was die Elbin damit meint: verzaubert oder verflucht? So ein Durcheinander! Jeder nennt die Dinge, wie es ihm gerade einfällt, wie soll man da wissen, ob man vom gleichen redet?)
Uther jedenfalls, soviel ist klar, ist unfähig, die Wahrheit vor seinen Augen zu erkennen. Das lässt sich ihrer Meinung nach nicht durch einen Fluch erklären. Welche Erklärung kommt aber dann in Frage?
Nun kennt Lîf sich nicht mit Berührtenmagie aus, mit Feenmagie dank der alten Esja aber durchaus. Und wenn Feen eines hervorragend können, dann ist dies Täuschen, Verwirren und Bezaubern. Sie tun dies auf fünf verschiedene Arten (und vielleicht ist dies bei Berührten ja ähnlich
[3]): nämlich durch Betören oder Befehlen, durch Trugbilder oder Blendwerk oder durch Halluzinationen.
[4] (Gestaltwandel zählte Esja hier nicht hinzu, obwohl dieser wunderbar zum Täuschen und Verwirren taugt, weil dies aber nicht sein eigentlicher Zweck ist. Selkies werden nicht im Wasser zu Robben und an Land gern zu Zweibeinern, um irgend jemanden zu täuschen, sondern weil man an Land mit zwei Beinen und zwei Händen wesentlich mehr anfangen kann als mit Flossen, vor allem aber weil die eine Gestalt so sehr zu ihrer Natur gehört wie die andere. Esja legte immer großen Wert darauf, die Dinge richtig einzuordnen und zu benennen. Ach, wenn sie nur nicht so früh gestorben wäre. Wie vielmehr hätte Lîf noch von ihr lernen können!)
Betören ist am leichtesten zu erklären. Mit ihren natürlichen Reizen, mit Sang, Musik, oder Tanz, mit Schauspiel, Geschichten oder einfach nur mit ihrer "Zauberstimme", sorgt die Fee dafür, dass man ihr freundschaftlich gesinnt ist, von kurzzeitiger Hilfsbereitschaft bis hin zur vollkommenen (und womöglich dauerhaften) Hingabe. Echt dabei ist das Talent, welches die Fee einsetzt: Ninae ist wirklich blendend schön, Tristans Stimme wirklich samtweich (wenn er will), und die Vodyanoi von Wodland wirklich äußerst wohlgestaltete Mannsbilder. Auch die erzeugten Gefühle sind insofern echt, als dass sie von dem Betörten selbst erzeugt werden, also nicht von außen kommen. Ein gänzlich gefühlloser Mensch, etwa, ließe sich nicht betören. Durch die Betörung wird nur stimuliert, was bereits vorhanden ist – und wenn es ein Kienspan ist, der zu einem Waldbrand auflodert. Folglich wirkt eine Betörung auch umso besser, je mehr sich der Betörte darauf einlässt, und je mehr er sich darauf einlässt, desto mehr wird er dafür belohnt, zumindest in seinem Empfinden. (Die drei Mägde des Disenopfers sahen nach der "Zeremonie" jedenfalls wesentlich glücklicher aus als zuvor, und sehr froh, bei ihren Feengatten zurückbleiben zu dürfen, um ihm drei Töchter zu gebären oder auch mehr.) Glück, Zufriedenheit, Geborgenheit, das Gefühl, einer großen, erhabenen Liebe... ein vom Schicksal Auserwählter zu sein... wie verlockend dies sein muss für jemanden, der zuvor allein, verloren, versklavt oder verstoßen war! Oft genug soll es gar vorkommen, dass jemand sich freiwillig aufmacht zu einem Ort, von dem es heißt, dass ein Feenwesen dort lebt und jeden verführt, der sich dort hinwagt, und erst nach zwanzig Jahren wieder freigibt, oder gar niemals.
Befehlen ist Betören für Ungeduldige. (Oder für solche ohne besonderes Talent.) Statt über den Umweg der Freundschaft befiehlt die Fee ihrem Opfer lieber geradeheraus, was er zu tun habe oder wie er denken solle. Nachtfeen greifen häufiger als Tagfeen zu diesem direkten Weg, obwohl man andererseits einige der mächtigsten Betörerinnen ebenfalls unter den Nachtfeen findet (Sirenen würden Lîf dabei als erstes einfallen...) und einige der Herrschsüchtigsten unter den Tagfeen (von Lamias heißt es, dass sie gar nicht erst nachfragen, was man in ihrem Gebiet zu suchen hatte, sondern die ungebetenen Gäste lieber gleich versklaven und bisweilen sogar, wenn ihnen die Diener ausgehen, sich auf die Jagd danach machen.)
Würde eines davon
Uthers Verhalten erklären? Nun, gegen eine Betörung spricht seine säuerliche Gemütsverfassung. Wie er sich gleich angegriffen wähnte. Er erscheint Lîf einfach nicht... glückselig genug. Man vergleiche sein Auftreten mit dem von
Kjartan, welcher noch immer von Ninaes Zauberreizen trunken ist. Obwohl er sich bewusst ist, dass man sich hier auf möglicherweise feindlichem Gebiet befindet, schwebt er dennoch mal vor Glück, mal vor Sehnsucht seufzend durch die Gänge und achtet kaum auf das, was um ihn ist. (Ohne dies aber gänzlich zu verleugnen, wie Uther es tut. Es reicht, ihn auf etwas aufmerksam zu machen, dann sieht er's wohl.)
Steht
Uther also unter jemandes Befehl? Nun, dagegen spricht, dass man jemandem zwar zu lügen befehlen kann, nicht aber, ein
guter Lügner zu sein. Und Lîf ist ja überzeugt, dass Uther ihnen nichts vormacht. Außerdem erscheint es ihr sinnlos zu leugnen, was jeder hier im Raum (außer Uther) mit eigenen Augen sehen kann, welche Absicht sollte dahinter stecken?
Aber noch gehen Lîf die Erklärungmöglichkeiten nicht aus. Drei sind noch übrig von den fünfen.
Ihr Blick geht zu den Gefährten hinüber, von denen einige noch immer mit Uther streiten, und kurz wird ihr schwindelig. Eine tiefe Kluft scheint sich zwischen ihnen zu öffnen, als Lîf sich bewusst wird, wie selten und kostbar das Wissen ist, aus dem sie gerade schöpft, weitergereicht seit Urzeiten, beschützt vor all jenen, die es missbrauchen könnten. Wie schwer lastet plötzlich auf ihren Schultern das Gewicht dieses Wissens, der damit verbundenen Verantwortung zu schützen, zu bewahren, geheim zu halten, aber doch auch eines Tages weiterzugeben an den auserwählten Nachfolger... Würde sie es missen wollen? Ist ihr die Last zu schwer? Oder überkommt sie ein Schauer über die Schicksalhaftigkeit ihres Lebensweges? Denn wäre sie nicht vor gut zweieinhalb Jahren von Rûngarder Piraten verschleppt worden und wäre sie nicht einem davon besonders ins Auge gefallen (wer hat hier wen betört: der Satyr die Sirene oder umgekehrt?) und hätte dieser der alten Esja nicht erlaubt, seinem jungen Weib Gajas Weg zu zeigen, und wäre Esjas eigener Lebensweg nicht so schicksalhaft verlaufen, dass sie jahrelang unter Feen lebte
[5], dann... verstünde Lîf heute nicht einmal ihre eigene Natur, geschweige denn die der Feen und ihrer Zauber.
Lîf zwingt ihre Gedanken zurück zum Thema.
Trugbilder gaukeln Dinge vor, die es in Wahrheit nicht gibt. Sie werden auch
Luftgespinste genannt, denn sie erzeugen etwas aus dem Nichts heraus. Trugbilder sprechen die Sinne an und müssen nicht unbedingt Bilder sein, sondern etwa auch Laute oder Gerüche. An vier Merkmalen unterscheidet man das Trugbild von anderen Täuschungen: erstens ist es ortsgebunden, zweitens täuscht es jedes Wesen in seiner Reichweite auf dieselbe Weise (außer jenen, die den Trug durchschauen): ob Tier, Mensch oder Elb, ob Mann oder Weib, ob Verbündeter oder Feind, ob der Zaubernde ihn im Blick hat von seiner Anwesenheit nicht einmal ahnt: alle nehmen dasselbe wahr. Drittens kann ein Trugbild nur etwas darstellen, das der Fee bekannt ist. (Eine erhebliche Einschränkung für eine Fee, die einen "Kurzlebigen" täuschen will; weniger für einen menschlichen Zaubernden, der einen anderen Mitmenschen an der Nase herumführen will.) Viertens können Trugbilder keine reale Person oder Gegenstand wie etwas anderes aussehen lassen.
Von daher: Auch ein Trugbild scheidet hier aus, denn ein Trugbild kann keinen Strohsack als Soren Villag erscheinen lassen.
Ein
Blendwerk also? Denn dies unterscheidet sich von einem Trugbild im ersten und im letzten Punkt: es kann nicht nur, es muss sogar auf eine Person oder einen Gegenstand gewirkt werden, um ihn anders erscheinen zu lassen, als er ist (abermals auf alle fünf Sinne bezogen, einzeln oder im Zusammenspiel), oder gar den Blick gänzlich an diesem vorbeizulenken.
Aber um auf ein Blendwerk hereinzufallen, das niemanden in ihrer Gruppe täuschen konnte, müsste
Uther schon recht dumm sein, um nicht zu sagen strohdumm. Das kann sie irgendwie auch nicht glauben.
Die
Halluzination bleibt da als letztes noch. Von allen Täuschungen ist sie die mächtigste. Jedenfalls kann sie alles, was Trugbild und Blendwerk nicht können: sie erzeugt eine Illusion, die nur die Zielperson und der Zaubernde selbst wahrnehmen können. Sie existert einzig im Kopf des Zieles, vor dessen "geistigem Auge", im Wachen oder im Traum. Sind mehrere Personen das Ziel, so sieht womöglich jeder etwas anderes. Zum Beispiel: "das schrecklichste Monster, das du dir vorstellen kannst" – darunter stellt sich sicherlich jeder etwas anderes vor. Oder auch: "dort liegt dein Weib, tot auf dem Boden!" wird jedem ein anderes Weib zeigen. Der Zaubernde muss also nicht einmal kennen, was er dem Ziel vorgaukelt. "Dort steht das schönste Weib, das du dir vorstellen kannst!" Oder auch: "Ich bin alles, was du dir von einem Weib erträumst." Oder gar: "Du bist von der Pest befallen. Beulen übersähen deinen ganzen Körper." Eine Halluzination ist an nichts gebunden außer an die Zielperson, dessen Wissen und Vorstellungskraft. Es gibt kaum eine Grenze, was sie ihren Opfern vorgaukeln kann. Umstehende, die nicht Ziel des Zaubers sind, bekommen nichts von alledem mit – außer vielleicht das seltsame Verhalten des Halluzinierenden.
Ist es das? Halluziniert
Uther? Zumindest findet Lîf nichts, was dagegen spräche. Daraus ergibt sich die Frage: ist hier eine Fee am Werk? Und damit auch eine andere Person als oben im Kloster, nur ähnlich mächtig? Doch die hiesigen Feen sind laut Ninae mit Uther befreundet. Steckten sie hinter seiner Verwirrung, könnte dies nur zu seinem Schutz geschehen sein. Die andere Möglichkeit: es steckt doch dieselbe Person dahinter und es können eben auch Berührte Halluzinationen wirken. Vielleicht kann Freydis ihr das bestätigen?
Außerdem wäre da noch die Frage, wie man Uther davon befreien könne. Rogars Aktion hätte eigentlich Beweis genug sein sollen, dass an dieser Stelle kein gichtkranker Fürst im Bett liegt, und denn Bann somit brechen, doch Uther ist noch immer nicht überzeugt. Überhaupt sollte eine Halluzination nur so lange wirken, wie der Zaubernde sie aktiv aufrecht erhält, mit allenfalls einer kurzen Nachwirkzeit von wenigen Augenblicken bis hin zu einem Tag vielleicht. Es muss hier also etwas oder jemanden geben, der die Illusion aufrecht erhält oder Uther regelmäßig von neuem verzaubert.
[6]Während Lîf über all dies nachdenkt, bekommt sie vom restlichen Geschehen in der Kammer – Uthers Empörung über Aeryns unglückliche Wortwahl 'verhext' etwa – kaum etwas mit. Nur ihren Gatten spürt sie verlässlich an ihrer Seite.