Vorbis hatte nicht die geringste Ahnung, was ihn erwarten würde, als er am nächsten Morgen vor seiner alten Heimat auf Melandro wartete. Eine Mischung aus Furcht und Nervenkitzel hatte ihn die halbe Nacht wachgehalten, und erst ein nächtlicher Ausflug in den Schankraum des Gasthauses, wo gerade die letzten Schnapsleichen des Vortages herausgekehrt worden waren, linderte seine Anspannung etwas. Der Wirt war so freundlich, einem frommen Gottesmann einige Reste des abendlichen Eintopfes aufzuwärmen, und dazu zwei Humpen Bier zu reichen, mit denen Vorbis die ärgsten Spitzen seiner Nervosität glätten konnte.
Im Anschluss an diese nächtliche Episode hatte der Priester zwar einen unruhigen Schlaf gefunden, doch den Preis zahlte er jetzt, denn sowohl sein Magen wie auch sein Schädel ließen deutlich erkennen, was sie von solchen Eskapaden hielten.
Als Melandro schließlich - wie immer zu spät - auftauchte, hatte die morgendliche Kälte Vorbis wieder einigermaßen aufgefrischt, und schweigsam folgte er seinem Ziehbruder, als dieser ihn durch die Straßen der Stadt führte. Erst langsam, dann immer stärker, keimte dabei ein Verdacht in ihm auf, der sich schließlich bestätigte, als der Weg sie am Anwesen des Protektors vorbei führte.
Melandro wollte ihn tatsächlich zur Mondsteinmaske bringen - ein Ort, in den den Priester unter gewöhnlichen Umständen wohl keine zehn Pferde hätten hineinzerren können; doch in diesem Moment war er derart perplex, dass er Melandro wie aufgezogen auf die Hängebrücke folgte.
Es war nicht so, dass Vorbis ein Problem mit Vergnügungen an sich hatte. Dem Essen und dem Alkohol war er bei weitem nicht abgeneigt, was man an seiner imposanten Statur deutlich erkennen konnte. Doch das Keuschheitsgelübde, das sein Orden von ihm einforderte, hatte er nie gebrochen, und nur der Gedanke an das, was in dem vor ihm liegenden Gebäude in diesem Moment wohl alles geschah, trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht.
Seine Faible für gutes Essen erwies sich hier auf der Hängebrücke einmal mehr als Fluch, denn der steile Aufstieg, den Melandro behende zu überwinden wusste, stellte Vorbis für einige Probleme. Dabei war es nicht nur die Anstrengung, sondern dazu auch noch der Abgrund unter den schaukelnden Holzplanken, die ihm zu schaffen machten. Mehr kriechend als gehend, mit verkrampft nach vorne gerichtetem Blick, um bloß nicht nach unten sehen zu müssen, gelangte auch Vorbis schließlich auf die andere Seite: Die legendäre schwebende Mondsteinmaske. Viel hatte er über diesen Ort bereits gehört, doch so nah wie jetzt war er ihm noch nie gekommen. Und er befürchtete, dass es dabei nicht bleiben würde.
Es kam noch viel schlimmer, wie der fette Mensch entsetzt feststellen musste, als Melandro im Gebäude schließlich begann, sich auszuziehen. Und Vorbis sollte das gleiche tun! Spätestens jetzt wäre er noch vor einer Woche wohl schreiend hinausgerannt, doch was immer das Wiedersehen mit seinen Geschwistern ausgelöst hatte, die Neugierde war nun so groß, dass er es, wenn er sich auch furchtbar schämte, Melandro gleichtat. Um einen letzten Hauch von Würde zu bewahren, schlang er sich wenigstens ein Handtuch um die Hüfte (glücklicherweise fand er eines, das groß genug dafür war), bevor er seinem Bruder in den Baderaum folgte.
Ein erneuter Schock traf ihn beim Anblick der nackten Halbelfe, und sofort richtete er seinen Blick starr zur Decke, während Melandro sich in einen der Zuber begab. Auf dessen knappe Vorstellung hin schien von ihm erwartet zu werden, dass er etwas sagte, und so räusperte er sich zunächst ausgiebig, während er interessiert ein Astloch in einem der Deckenbalken fixierte.
"Äh, hallo." krächzte er, und verfiel zunächst in einen Hustenanfall, den er mit geschlossenen Augen hinter sich brachte. Zahlreiche Räusperer später schaffte er es schließlich, wieder einige Töne herauszubringen:
"Ähm, wie fange ich an? In der Nähe des Blausees haben wir gestern eine Kreatur getroffen ... und bekämpft. Sie bestand aus purem Schatten, und war gerade dabei, das Leben aus einem armen Passanten herauszusaugen. So sah es zumindest aus. Nun ... Melandro meinte, Ihr könntet vielleicht etwas wissen über solche Kreaturen? Gibt es noch mehr davon? Was sind das für Wesen? Es war ... fürchterlich. Und wenn es noch mehr gibt, ist das eine ernste Gefahr für Niewinter."