Die Waisen teilten sich also von neuem auf. Während Melandro die Umgebung im Auge behielt und sah, was dort draußen in der unmittelbaren Umgebung vor sich ging, machten Yzwaz und Vorbis sich auf die Enklave des Protektors, um an diesem Abend die Magie des Priesters noch zu nutzen und zu versuchen den Kelch zu finden. Es wurde bereits dunkel und sie stellten fest, dass auch die Nebel, die sie bereits zuvor gesehen hatten, schon wieder begannen aufzusteigen. Aber der Rest von Niewinter ignorierte das. Es schien vielmehr ein besonders ausgelassener Abend in der Enklave zu sein, denn aus mehr als einem Wohnhaus und aus sämtlichen Gasthäusern erklangen laute Stimmen, die lachten und sangen, johlten und schrien. Auf dem Marktplatz angekommen, wo Vorbis seinen Zauber wirken wollte, erwartete sie sogar ein besonderes Bild. Denn der Markt war inzwischen weitgehend leer, die meisten Händler und Kunden waren bereits entschwunden. Aber just als die zwei einbogen hörten sie ein Krachen aus Richtung des großen Gasthauses. Ein stämmiger Zwerg kam aus einem Fenster geflogen – mitsamt dem Glas und einem der zwei Läden und wenig später sprang ein Halber hinterher, um ihn zu packen und gleich wieder ins Innere zu schleudern. Wachen eilten herbei während die Menge johlte.
Aber die Waisen waren nicht hier, um sich an einer Kneipenschlägerei zu beteiligen. Sie hatten wichtigeres zu tun. Und tatsächlich, kaum hatte Vorbis seinen Zauber vollendet, da spürten er ein sanftes Ziehen. Der Kelch war noch hier – ein Glück – und die Magie führte ihn gen Nordwesten. Er folgte ihr und musste seinen Zauber einmal erneuern.
[1], da er das Ziel nicht so schnell erreichen konnte, wohin die Magie ihn führte durch die Gassen Niewinters. Aber schließlich standen die beiden davor: das Anwesen des Protektors, der Sitz des Herrschers von Niewinter, dessen Tore zu dieser späten Stunden verschlossen waren. Es mochte noch Wachen geben, aber sie standen nicht draußen. Dagult Nieglimm schätze seine ruhigen Abende, also würden sie hier heute nichts mehr erreichen können. Und ein Einbruch beim Protektor war etwas, das zwar möglich war, wofür sie aber besser ihre Geschwister mitnehmen sollten. Also kehrten sie lieber zurück zum Waisenhaus, wo ihre Geschwister sie bereits erwarteten.
[2]Indessen suchten Maldrek und Scarlett gemeinsam nach dem Brief aus Cormyr. Zum Glück hatte Vorbis bereits einiges vorsortiert, aber trotzdem mussten sie eine Menge Dokumente genauer lesen, bevor sie das Schreiben fanden, das der Oghmapriester wohl übersehen hatte, weil es nicht in Orbus’ schwungvoller Handschrift, sondern mit eckigen, beinahe zittrigen Buchstaben geschrieben war. Aber sobald sie genug gelesen hatten, war ihnen klar, dass dies genau das war, was sie gesucht hatten:
Der Brief aus Cormyr (Anzeigen)
Alter Freund,
wenn du diese Zeilen liest, dann bedeutet dies, dass auch ich endgültig fort bin. Ich habe meine Diener angewiesen diesen Brief umgehend abzuschicken und es sollte höchstens ein paar Zehntage dauern, bis er dich erreicht. Und um sicher zu gehen, werde ich sie anweisen, sich die Ankunft von dir bestätigen zu lassen. Also schicke einen Boten zurück nach Cormyr. Solange sie nicht wissen, dass du diese Zeilen gelesen hast, werden sie weiter Kopien schicken, damit du dies erfährst.
Du bist der letzte von uns, ein einsamer Wächter des Geheimnisses. Wobei natürlich nicht ganz einsam, er wandelt noch immer hier unter uns. Das weist du so gut wie ich. Aber er wird nicht eingreifen, kann es nicht, darf es nicht. Doch ich gehe davon aus, dass er dich besuchen wird, so wie er bei uns war als Jeronar gegangen war. Ich muss ehrlich sagen, dass ich es sehr gewöhnungsbedürftig finde. Es sollte mich nicht überraschen, aber trotzdem fühlt es sich merkwürdig an, in sein Gesicht zu blicken und die gleichen Züge zu sehen wie damals, während mein eigenes Spiegelbild sich völlig gewandelt hat.
Nun, wie dem auch sei. Du bist jetzt der letzte, also ist es wohl Zeit den Plan in die Tat umzusetzen. Ich weiß immer noch nicht, ob wir richtig gehandelt haben. Die Siegel haben lange gehalten und wir hatten Frieden. Aber trotzdem mag das jetzt dazu führen, dass wir ernsthafte Probleme bekomme. Wer weiß schon, wie es sich auf die Dunkelheit auswirkt, dass sie so lange ausgesperrt war und Kraft sammeln konnte. Es mag wohl sein, dass sie mit mehr Macht zurückkehrt als je zuvor. Der Preis für den Frieden könnte ein härterer Kampf sein als es der unsere war. Aber jetzt ist es zu spät etwas zu ändern, wir haben einmal entschieden und die Welt wird mit unserer Wahl leben müssen, da wir es nicht mehr tun können. Möge die Macht des Engels dich leiten Orbus. Wir sehen uns wieder, sobald du mir folgst.