Unsicher folgt die junge
drudkvinde Esjas Anweisungen. Sie zieht Jacke, Schal und Stiefel aus, legt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Die Hände faltet sie über dem Bauch. Dann hört sie der Alten zu, schließt die Augen und überlässt sich mit einem leisen, aber deutlichen
"Ich bin bereit" der Stimme ihrer Lehrmeisterin und dem dumpfen Trommelschlag. Kaum erfasst der kurze Tumult ihren träge dahin gleitenden Geist, und schon bald hat sie die Hütte, die anderen Weiber und die gesamte Insel hinter sich gelassen. Stille herrscht, bis auf das regelmäßige Pochen, von dem sie plötzlich nicht mehr sagen kann, ob es die Trommeln sind oder ob die Instrumente schon verstummten und sie ihrem eigenen Herzschlag lauscht. Es ist dunkel um sie herum, obwohl sie das Gefühl hat, die Augen zu öffnen. Dann, ganz allmählich, beginnen sie sich an die Umgebung zu gewöhnen, schälen sich Umrisse aus einem dämmrigen Halblicht heraus. Bäume! Riesige, uralte Bäume, die ehrwürdig und majestätisch über ihr aufragen, weit oben in der Höhe ihre mächtigen Äste ineinander greifen lassen und ein dunkles, dichtes Dach über Lîf bilden, die sich mit einem Mal winzig und unbedeutend vorkommt.
Staunend wandert sie durch diesen Urwald, saugt den Duft in sich auf, hört aus weiter Ferne die Stimmen von Tieren, durchstreift das Unterholz... Da wird ihr plötzlich bewusst, dass sie sich, wie in einem Traum, ganz mühelos bewegt, obgleich sie doch kaum zehn Schritte weit sehen kann, so dicht ist das Unterholz. Und sie blickt an sich hinab, wird sich zum ersten Mal ihrer selbst bewusst, seit sie in diesen verwunschenen Wald kam. Überrascht bleibt sie stehen, muss sie doch feststellen, dass sie gar nicht läuft – sie scheint zu schweben! Hat sie überhaupt Beine? Ihr Kleid, das Brust und Arme warm und weich umfließt, entfaltet sich darunter nach allen Seiten wie eine Blüte, bildet Falten und scheint in einem Wind zu flattern, den sie selbst nicht spürt. Sie kann nicht sehen, wie sie unterhalb ihrer Hüften aussieht, fühlt auch nicht, ob sie Füße auf den federnden, satten Waldboden setzt oder nicht. Neugierig geworden, erforscht sie sich weiter: Nein, das ist nicht ihr Kleid, das sie da trägt – es ist ein Kinderkleid, wie es kleine Mädchen tragen! Staunend betastet sie sich selbst. Keine Schürze, keine Buckelfibeln, an denen die zierlichen Kettchen mit ihren intimsten Habseligkeiten hängen, dem Knochenkamm, der kleinen Nagelfeile, dem Zahnstocher... keines der Zeichen eines erwachsenen Weibes.
Sie schaut sich suchend um, doch es gibt hier nichts, worin sie sich spiegeln könnte, keinen Teich, kein Metall. Also befühlt sie ihr Gesicht, ihren Kopf, und es wird zur Gewissheit: Sie trägt ihr Kopftuch nach Art der Mädchen und unverheirateten Frauen, die Schleife ist unter dem Kinn geschlungen statt im Nacken. Und auf ihrem Rücken ragt unter dem Tuch ein einzelner, dünner Zopf hervor statt der zwei seitlichen Zöpfe des Weibes. Sie ist ein Kind! Wieder? Sie war doch bereits ein Weib, hatte eines Morgens die blutigen Laken auf ihrem Nachtlager gefunden, ja, sie war doch sogar einem Mann vermählt worden – oder nicht?!
"Ist da jemand? Wo bin ich? Wer bin ich..?" ruft sie verwirrt in den dunklen Wald hinein, und ihr Stimmchen klingt dünn und hell. Da plötzlich, vor ihr, ragen zwei alte, knorrige Eichen auf. Fast wie runzlige Greisengesichter wirkt die dicke Borke der riesigen Bäume, und Lîf hält inne, um ehrfürchtig an ihnen hinauf zu blicken. Ein Windstoß, den sie nun doch fühlt, lässt ihr Kleid flattern. Warme Luft, die erdig riecht... und dann sieht sie es: Eine große, kreisrunde Öffnung in der Flanke eines Hügels direkt vor ihr. Links und rechts ist sie umgeben von den dicken Wurzeln der Eichen, die einen natürlichen Torbogen zu bilden scheinen.
Dunkel ist es dort drinnen, dunkel und still, und sie ist nur ein kleines Mädchen, allein und wehrlos. Doch sie empfindet keine Angst, noch nicht einmal Beunruhigung. Im Gegenteil: Aus dem gähnenden Loch scheint ihr Wärme zu strahlen, beim Anblick der Öffnung verspürt die kleine Lîf Vertrauen und Zuneigung. Es ist der Schoß der Großen Mutter, warm, fruchtbar, Geborgenheit bietend all Ihren Kindern...
"Mama..!" flüstert das Mädchen, streckt die Ärmchen aus und schwebt voller Vertrauen voran in die Dunkelheit...
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Alle Weiber reden durcheinander, Panik scheint sich unter ihnen auszubreiten. Nun werden auch einige der Mannsleute aufmerksam, schauen auf. Doch Tristan ist der Schnellste: Während eines der Weiber loshastet und sich in der Eile beinahe auf die Rocksäume tritt, hebt er Inga hoch und wirft sie sich über die Schulter. Das junge Weib ist ganz schlaff, nur gelegentliche Krämpfe durchlaufen ihren Körper, als sie würgt, röchelt und nach Luft schnappt. Als er in der Priesterhütte ankommt, ist das Weib schon vor ihm hineingestürzt und hat offenbar atemlos die schlechten Neuigkeiten verkündet, denn die alte Esja kommt ihm bereits entgegengehumpelt. Mit einer kurzen, herrischen Geste nickt sie mehreren Weibern zu, die er undeutlich hinter ihr erkennt – und ist das nicht auch seine Lîf, die dort reglos liegt..? Und ist ihr Kopf nicht umgeben von dünnen Schwaden, die aus einem Tiegel unter ihr aufsteigen? Ein schwerer, würziger, aber irgendwie auch betäubender Geruch liegt in der Luft...
Diese fremdartig, ja, aus einer anderen Welt scheinende Szene entzieht jedoch die alte
drudkvinde sehr rasch wieder seinem Blick. Mit ernster Miene scheucht sie ihn und eine von drei sichtlich verschreckten Mägden in ein anderes Gemach, das dunkel und kühl erscheint, weit weniger von stickigen Kräuterdämpfen durchwabert als jenes, in dem sein eigenes Weib liegt. Dort bedeutet sie ihm, Inga auf einen mit Fellen behaglich gepolsterten hölzernen Lehnstuhl zu betten, und kniet sich mit Hilfe der kurzgeschorenen Magd neben die halb Bewusstlose. Brummend untersucht sie sie, hebt ihre Augenlider an, während die Magd, ein ängstlich wirkendes, blasses Wesen, das mit vollem Haar wohl durchaus hübsch wäre, die Hände ringt und Tristan erschrocken ansieht.
"Mmmmh... verschluckt also? Fischsuppe?" fragt Esja ihn, ohne aufzusehen. Als er bejaht, nickt sie einige Male, greift nach einem kleinen metallenen Gegenstand, der an einem Kettchen von einer der Buckelfibeln hängt, die ihre Schürze halten, und umfasst mit ihrer hageren Hand Ingas Kinn.
"Den Mund auf, Mädchen!" fordert sie, doch Inga, die offenbar nur schlecht Luft bekommt, windet sich, und die Alte hat keinen Erfolg.
"Törichtes Ding – ich will dir doch nur helfen!" knurrt sie. Doch Inga, totenblass und in Panik, gehorcht ihr nicht. Oder gehorchen dem jungen Weib die eigenen Glieder nicht mehr?
"Du!" wendet sich Esja plötzlich an die aufschreckende Magd.
"Hol die zwei hölzernen Stäbe dort hinten von der Bank." Gehorsam eilt die Magd los. An Tristan gewandt meint Esja:
"Ich muss ihren Rachen untersuchen. Sorg mir dafür, dass sie stillhält."[1] Die Magd kehrt zurück, hält ihr mit zitternden Händen die geforderten Holzstäbe – schmal und flach, soweit Tristan erkennt – unter die Nase.
"Hier" sagt sie schüchtern.
"Gut! Er wird sie ruhig halten, und du sperrst mir damit ihren Mund auf, so dass sie nicht zubeißen kann. Hier, an den Mundwinkeln, setzt du an." Die Alte erteilt ihre Kommandos mit ruhiger Stimme. Nichts scheint sie erschüttern zu können.