"Das soll eine Stadt sein?" fragte Skip, als Mirabar am Horizont auftauchte, aus seiner Enttäuschung keinen Hehl machend. Darauf hatte er sich auf den langen Tagen ihrer Reise, dem endlosen Wandern durch die Wildnis, gefreut, mit diesem Gedanken hatte er sich ermuntert: Halt durch, Junge, bald seid ihr da? (Natürlich waren die beiden der Straße gefolgt, die auf kürzestem Weg von Tiefwasser nach Mirabar führte, gut befestigt und rege bereist war, und so konnte Azrim unterwegs nur müde lächeln, wenn Skip über die "Wildnis" klagte.)
"Was soll's", tröstete er sich, als man sich eine Weile später dem Tor näherte,
"es zählen die inneren Werte." Er zwinkerte Azrim zu.
Durch die Gassen reitend, auf der Suche nach einer Herberge, fiel ihm so einiges auf. Erstens, die Straßen und Gebäude waren so ordentlich gebaut, breit, solide, ohne Schnörkel und Winkel, dass sich Schlupflöcher, anders als in Tiefwasser (wo die Qual der Wahl das größere Problem war), nur mit Mühe finden ließen. Die Bewohner schienen auch ordentlicher zu sein und weniger herumstehen oder –liegen zu lassen; Abfall sah er gar keinen, aber auch Kistenstapel, Fässer und dergleichen kaum oder nur an Orten, wo sehr viel Platz drumherum war, weswegen sie aus seiner Sicht nichts taugten; ha, selbst die Wäsche hing hier so weit aus dem Weg (zumeist hoch über den Köpfen), dass man sich nicht einmal kurz hinter eine Leine ducken konnte. Deprimierend!
Zweitens sah er auf den ersten Blick nur Menschen und Zwerge. In seiner Heimatstadt drängte sich ein bunt gemischtes Volk aus aller Herren Länder in den Gassen, hörte man an jeder Straßenecke eine andere Sprache, führte man Gespräche auch schon einmal in zwei oder drei verschiedenen, man half mit Händen und Füßen nach, wenn Worte zur Verständigung nicht ausreichten... Aber hier? Hier fielen Azrim und er auf wie bunte Hunde. (Ja, sogar er selbst, als Viertelelf, mit seinen nur leicht spitzen Ohren und den etwas zu scharf leuchtenden Augen, und Azrim erst!) Skip fiel nicht gerne auf.
"Vielleicht sollte ich was wegen der Ohren machen..." Mit der richtigen Frisur, dem richtigen Hut oder Kappe, ging Skip leicht als Mensch durch. (Die Augen, wie gesagt, blickten etwas zu intensiv, aber da konnte man gegensteuern, indem man die Lider halb schloss oder den Blick unstet schweifen ließ oder den Augenkontakt auf andere Weise minimierte.)
Drittens fiel Skip auf, nun, das war jetzt nicht wirklich eine einzelne Beobachtung, sondern ein zusammenfassendes Gefühl: er kam sich
fremd vor. Eine banale Feststellung, mag man denken, aber Skip, der Tiefwasser noch nie verlassen hatte, war nicht darauf vorbereitet. Wie ein ganz anderer Mensch kommt man sich da vor: verunsichert, wo man Selbstsicherheit gewohnt war, verletzlich, weil einem jegliches Wissen fehlt, aus welcher Richtung Gefahr drohen könnte, und einfach so richtig unwohl in seiner Haut.
"Na das kann ja spaßig werden", murmelte er, von den vielen neuen Eindrücken überwältigt.
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Das Haus des Marquis betrat Skip natürlich in seinem besten Gewand gekleidet, mit den dazugehörigen Manieren. Auch Gestik und Körpersprache waren angepasst. Die Krempe des Hutes verbarg die spitzen Ohren, zumindest auf den ersten Blick. (Die wenigsten Leute blicken zweimal.) Er hätte ein Kaufmann sein können, mit recht gut gehenden Geschäften. Sein Lächeln war offen, seine Stimme eine Spur zu laut, sein Schritt entschlossen. Der Rapier baumelte derart elegant an seinem Gürtel, an mit Samtschleife verziertem Lederband, dass Zweifel aufkommen mussten, ob sein Träger denn auch wisse, wie damit umgehen.
Während man auf den Marquis wartete, sah Skip sich im Empfangssaal um. Verstohlen nahm er Bestand auf. Was lag hier alles herum, das sich einzustecken lohnte? Wohin führten die Türen? Wie war es um die Fenster bestellt, boten sie Einstiegsmöglichkeiten? Fluchtwege? Gab es Verstecke?
[1]Die angerichteten Speisen interessierten ihn erst einmal weniger. Die Arbeit ging vor.
Als der Zwerg sich vorstellte, wandte Skip sich ihm aufmerksam zu, vermeinend, er gehöre hier dazu und man würde durch ihn jetzt weitere Instruktionen erfahren. (Von den Silbermarken hatte Skip noch nie etwas gehört, deshalb war ihm das kein Hinweis, dass es sich bei Dolgrim Frostbart um einen Fremden handelte. Auch dessen Aufmachung hätte normale Zwergenkleidung sein können.) Doch da dieser sich statt dessen ans Essen machte, blieb nur der Schluss, dass es sich bei ihm um einen weiteren "Gast" handelte.
"Langweilig!" maulte Skip einige Zeit später, als der Marquis noch immer auf sich warten ließ.