So vergingen für jeden Einzelnen die Tage bis zum Empfang, und ehe sie sich versahen, war der besagte Abend herangebrochen. Froh, nach ihren teils längeren Reisen nun wieder einmal für einige Tage die Segnungen der Zivilisation in Anspruch nehmen zu können, machten die meisten regen Gebrauch davon, und kleideten sich neu ein, genossen die Freuden eines ebensolchen Hauses oder aber besserten auch ihre etwas lädierte Reisekasse durch die eine oder andere angenommene Arbeit etwas auf.
Tristans neuer Bekannter hatte dessen Einladung angenommen, und es entspann sich an dem Abend noch ein durchaus interessantes Gespräch; doch dem genauen Grund für die Anwesenheit des Castillers hier in dieser Stadt konnte er nicht herausfinden. Immerhin eröffnete dieser ihm, dass er ebenfalls an dem Empfang teilnehmen würde und sie sicherlich zu diesem Anlass noch einmal Gelegenheit haben würden, miteinander zu plaudern.
Während der letzten beiden Tage mussten - oder durften - sie feststellen, dass sich die Kunde von ihrer Heldentat langsam in der Stadt verbreitet hatte. Immer häufiger sah jeder Einzelne, wenn er oder so durch Naumburg lief, wie Passanten ihnen verstohlene Blicke zuwarfen oder hinter ihrem Rücken tuschelten; doch es gab auch Bürger, die den einen oder anderen der Helden offen ansprachen und sie zu ihrer Tat beglückwünschten. Louis hatte, so er denn wollte, durchaus die Gelegenheit für ein amouröses Abenteuer auch ohne finanzielle Hintergedanken - und so ging es auch den anderen, die allesamt diverse Angebote in dieser Richtung erhielten. Ob sie Interesse an derlei Ablenkung hatten, war dabei eine andere Sache ...
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Am Abend des Empfangs trafen die Helden nach und nach oder, falls sie sich vorher verabredet hatten, auch in Gruppen, in der Burg ein, wo sie heute bereits am Burgtor von Wachen empfangen wurden, die Unbefugten ohne Einladung den Eintritt verwehrten. Livrierte Diener geleiteten die Gäste von hier zum großen Saal der Burg, wo sie beim Eintreten namentlich angekündigt wurden (diese hatte der Diener zuvor diskret abgefragt).
Als die Bezwinger des Werwolfes an der Reihe waren, war der Saal bereits gut gefüllt mit allem, was in dieser Stadt Rang und Namen zu haben schien. Als ihre Namen aufgerufen wurden, schien für einen Moment jegliches Gespräch zu verstummen, und ein deutliches Raunen war zu vernehmen, bevor die Geräuschkulisse wieder ihren vorherigen Stand erreichte und sie sich zunächst etwas umsehen konnten.
Für Louis und Don Tristan mochte der Saal sehr schlicht geschmückt sein; die Festsäle in Castillien und der Montaigne waren deutlich üppiger verziert, und die Räume heller. Doch Erich und Friedrich fühlten sich sofort wohl, und auch Jelena kannte aus ihrer Heimat eher schlichte und zweckmäßige Einrichtungen, so wie sie hier vorherrschten. Wenige Wandteppiche und Fresken schmückten die Wände, und das Licht der beiden Kronleuchter reichte gerade aus, um eine etwas schummrige Atmosphäre zu schaffen - es war zu sehen, dass der Baron nicht gewillt war, seine Stadt zu ruinieren, nur um ein Fest auszurichten, so wie es in südlicheren Gefilden durchaus nicht unüblich war.
Es gab nur eine größere Tafel, die auf einer kleinen Empore stand und an der ein junger hagerer Bursche, offenbar der Baron, flankiert von einem Kirchenmann und einem Gerüsteten saßen. Diejenigen, die zuvor Erkundigungen in diese Richtung eingeholt hatten, wussten, dass es sich bei den beiden um Abt Pius von der vaticinischen Kirche sowie um Stefan Handgrat, den Wachmann der Garde des Barons, handelte - die beiden engsten Berater des Barons, dem seine Unerfahrenheit und Nervosität deutlich anzusehen waren. Der Baron konnte den Saal von seiner erhabenen Position aus übersehen, während der Raum ansonsten ohne Tische auskam - mit Ausnahme von zwei größeren Exemplaren, auf denen ein Buffet errichtet war, das jedoch noch nicht eröffnet war. Sitzgelegenheiten waren spärlich, allerdings gab es den einen oder anderen Stuhl an der Seite des Raumes, wo sich ältere Gäste ausruhen konnten.
Die Gäste - es mochten vielleicht etwa hundert sein, die sich eingefunden hatten - unterhielten sich in kleinen Gruppen oder blickten sich neugierig um, auf der Suche nach Gesprächspartnern. Zwischen ihnen liefen Diener mit Karaffen, um die Becher der Gäste immer wieder nachzufüllen. Sobald die Neuankömmlinge nach ihrer Vorstellung in den Raum traten, lösten sich die ersten Menschen aus der Menge und wetteiferten um ihre Aufmerksamkeit; es schien beinahe ein Statussymbol zu sein, ein Gespräch mit einem der Helden zu erhaschen. Bald waren sie weit verstreut in der Halle und mussten immer wieder die gleichen Fragen über sich ergehen lassen: "Ein Werwolf?" "Wie sah er aus?" "Habt Ihr Euch nicht zu Tode gefürchtet?" und ähnliches.
Schließlich ebbten die Gespräche langsam ab, und als sich die Helden umblickten, bemerkten sie, dass der Baron sich erhoben hatte, um eine kurze Ansprache zu halten. Seine Stimme war zunächst dünn, wurde aber langsam fester, je länger er sprach.
"Edle Damen und Herren, Bürger von Naumburg, seid willkommen zu unserer Feier! Es ist nun ein halbes Jahr vergangen, seit mein Vater, Baron Karl von Naumburg, von uns gegangen ist. Es war für mich und meine Schwester Isolde[1] eine schwere Zeit, denn er war uns immer ein liebender Vater gewesen, so wie er auch diese Stadt und die umliegende Baronie geliebt hat. Mir ist das schwere Erbe zugefallen, seinem Beispiel zu folgen und unser Land in die Zukunft zu führen. Ich hoffe, ich werde euch alle nicht enttäuschen.
In einer solch schweren Zeit ist es umso erfreulicher und ein Schimmer der Hoffnung, wenn wackere Helden dazu beitragen, dieses schöne Land, unsere Heimat, ein Stück sicherer zu machen, indem sie einen der furchtbaren Schrecken zur Strecke bringen, die uns immer wieder heimsuchen. Deshalb ist es mir eine besondere Ehre und Freude, unsere Ehrengäste zu begrüßen, die uns allen die Ehre erweisen, sich unserem Feste anzuschließen. Mögen wir alle an ihrem Beispiel wachsen und uns aufrichten!
Und nun genug der Worte: Das Buffet ist eröffnet, lasst es euch schmecken!"