"In der Tat, ich schulde euch eine Erklärung." nickte der junge Baron. Es war nicht ganz klar, ob es nur an den Lichtverhältnissen lag, aber er wirkte immer noch beinahe totenbleich. "Zunächst einmal muss ich mich entschuldigen für die Anschuldigungen, die gegen euch erhoben wurden. Mir ist bewusst, dass wir eure Ehre öffentlich in Frage gestellt haben, doch es gibt schwerwiegende Gründe dafür, die ihr gleich erfahren sollt.
Seit mein Vater gestorben ist, hat der Druck auf mich und diese Baronie stetig zugenommen. Druck, der von Seiten Roswithas von Wirsche auf uns ausgeübt wird, die sich Naumburg ihrem Reich einverleiben will. Mehrere Delegationen hat sie in den letzten Monaten gesandt, deren Anspielungen immer offener in Drohungen übergegangen sind: Sollte ich mich nicht öffentlich Roswitha anschließen, wird mir mehr oder weniger unverhohlen damit gedroht, dass sie sich Naumburg mit Gewalt nimmt. Nun hat Eisenfürstin Wirsche bereits gezeigt, dass sie vor einem solchen Schritt nicht zurückschreckt - sie hat bereits mehrere kleinere Territorien in ihrer Umgebung eingenommen. Und die anderen Eisenfürsten haben es zugelassen, wohl aus Angst vor Roswithas Armeen, und vielleicht noch mehr vor Heinrich Dray, dem Kommandanten der Eisengarde in Wirsche. Er ist ein begnadeter Offizier - und dazu ihr Liebhaber, wie zumindest alle Welt behauptet.
Nun, selbst wenn ich mich für Wirsche erklären wollte, und das ist nicht der Fall, würde ein solcher Schritt fast sicher einen Krieg zwischen Pösen und Wirsche heraufbeschwören. Wir hier in Naumburg wären umkämpftes Gebiet, und marodierende Soldatenhorden würden unsere Baronie verwüsten. Das kann ich nicht zulassen!"
Während der junge Mann dieses Schreckensszenario heraufbeschwor, verhärteten sich seine jugendlichen Züge immer mehr. Bei den letzten Worten stand er mit geballter Faust in dem kleinen Raum und brüllte die Gruppe beinahe an. Dann jedoch, scheinbar erschrocken über sich selbst, beruhigte er sich wieder ein wenig.
"Ihr fragt euch sicherlich zu Recht, was das mit alledem zu tun hat. Nun, meine Situation ist, wie ihr gehört habt, recht verzweifelt. Egal, was wir tun, ein Krieg auf unserem Land erscheint unausweichlich. Inzwischen haben meine Informanten mir zugetragen, dass Wirsche Einheiten in die Nähe der Grenze verlegt. Ein Angriff scheint kurz bevorzustehen - und deshalb hat eine kleine Gruppe von Verschwörern einen verwegenen Plan gefasst: Stefan, mein loyaler Hauptmann, Dr. Vesalius, Don Alfonso, und natürlich meine Schwester.
Ihr wird die Aufgabe zukommen, Roswitha von Wirsche in dem Glauben zu lassen, sie lasse sich auf ihre Seite ziehen, um dadurch Zeit zu gewinnen, in der sie ihre Truppen zurückhält.
Diese Zeit muss ich nutzen. Ich werde die Eisenlande inkognito bereisen, mit dem Ziel, eine Allianz gegen Wirsche auf die Beine zu stellen. Es ist eine womöglich lächerliche Idee, dass gerade mir dies gelingen soll, doch es ist die einzige Chance, die sich uns bietet. Wenn Roswitha fürchten muss, dass andere Eisenfürsten Pösen zur Seite springen, wenn es angegriffen wird, dann wird selbst sie sich einen solchen Schritt zweimal überlegen.
Und hier kommt ihr ins Spiel, und es ist eine undankbare Aufgabe, die ich euch abverlangen will: Ihr müsst sterben, genauso wie ich gestorben bin - übrigens dank eines fantastischen Mittels, dass Dr. Vesalius von seinen Studien in den Halbmondreichen mitgebracht hat. Doch euer Ruf wird leiden müssen, zumindest solange, bis wir unser Ziel erreicht haben und uns offenbaren können.
Mein Leichnam ist in der kleinen Kapelle aufgebahrt, die zufälligerweise größtenteils aus Holz besteht. Ihr werdet euch nächtens aus eurer sträflich schlecht bewachten Unterkunft schleichen, um zu fliehen - vorher wollt ihr euch jedoch vergewissern, dass ich tatsächlich tot bin. In der Kapelle trefft ihr auf Hauptmann Handgrat, der an meiner Seite wacht. Es kommt zum Kampf, bei dem einige der zahlreichen Kerzenständer, die zu meiner Totenwacht entzündet wurden, umkippen und letztlich die Kapelle in Brand setzen. Handgrat kann mit letzter Kraft die Tür von außen verriegeln und fliehen - die Kapelle brennt ab und am nächsten Tag werden die verkohlten Überreste des Barons und der sechs Übeltäter gefunden werden.
Das zumindest wird die offizielle Geschichte sein, die Hauptmann Handgrat verlauten lässt. Auch wenn es die eine oder andere logische Lücke gibt, bin ich sicher, dass niemand genauer nachfragen wird, denn Stefan Handgrat ist ein Mann, der über allen Zweifeln steht.
In Wirklichkeit werden wir im Schutze der Dunkelheit und mit Hilfe eines weiteren geheimen Tunnels die Stadt verlassen und uns auf den Weg zum Angenehmen Wald machen. Dies hat mein Vater mir einst hinterlassen: Findest du dich jemals in einer ausweglosen Situation wieder, so gehe in den Angenehmen Wald und suche Perchta."
Die Stimme des Barons klang nach dem langen Monolog bereits etwas krächzend, und nun sah er einem nach dem anderen tief in die Augen:
"Ich weiß, dass ihr mir nichts schuldet, und ich kann einzig und allein an euren Gerechtigkeitssinn appellieren. Als ihr in die Stadt gekommen seid, war es wie ein Wink des Schicksals: In unserer größten Not kommen Fremde, die sich als Helden erwiesen haben. Was wir über euch gehört haben, ließ uns beschließen, den Plan jetzt und auf diese Weise umzusetzen. Alleine habe ich nur wenig Chancen, mein Ziel zu erreichen - wahrscheinlich würden Räuber oder Schrecken mich bereits nach kurzer Zeit aufhalten. Versucht hätte ich es dennoch. Stefan, Don Alfonso und Dr. Vesalius können mich nicht begleiten - sie werden hier benötigt, und wie sollten sie erklären, dass sie die Stadt direkt nach meinem Tode verlassen? Jemand anderen konnten wir nicht einweihen, denn auch in dieser Stadt gibt es Spione, und je weniger Menschen von unserem Plan wissen, desto sicherer.
Ihr jedoch kommt von außen, und Fremden trauen die Menschen alles zu. Das macht euch zu idealen Verbündeten für unseren Plan. Deshalb frage ich euch ganz offiziell: Wollt ihr mir helfen, mich durch die Eisenlande zu geleiten und die Eisenfürsten auf meine Seite zu ziehen?"