Kindheit:Alaric Finnegan (viel später erst sollte er den Namen Schattenfels annehmen) wurde als der mittlere von drei Brüdern geboren, in gutsituierter Familie. Auch ein kleines Schwesterchen gab es noch. Aus seiner Kindheit ist ihm am stärksten in Erinnerung, dass zwischen seinen Eltern ständig entweder Streit oder schlechtgelauntes Schweigen herrschte. Die drei Brüder und das Schwesterchen dagegen hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
Dann, als er 9 Jahre war, erwischte der Vater die Mutter in flagranti mit einem Liebhaber. Daraufhin hat er sie zum Priester geschleppt und zu einem Truth-Spell gezwungen, bei dem sich herausstellte: nicht einer seiner Söhne war tatsächlich von ihm, bei der Tochter stand die Chance 50:50. Seine Frau hatte ihn nie geliebt (die Ehe war von ihrer Familie arrangiert worden) und sie war von Anfang an fremdgegangen.
Daraufhin verstieß der Vater die Mutter, und seine drei Söhne gab er fort. Alaric weiß nicht, wohin es seine Brüder verschlagen hat und ob wenigstens die Schwester beim Vater bleiben durfte. Ihn selbst jedenfalls hat der Vater in ein Kloster im hintersten Hinterland gesteckt.
Dort wurde Alaric zum Mönch erzogen.
Das Leben als Novize im Kloster:Das Leben im Kloster war anders, fremd, einsam. Seine Geschwister vermisste er schrecklich. Das Kloster lag in der einsamen, rauhen Bergwelt der Felsklüften. Es war eher klein, nur zehn Novizen, alles Jungen. (Es gab zu jeder Zeit zehn Novizen, und das Kloster war nur für Männer.) Es herrschte eiserne Disziplin—dieses Wort begann Alaric schon bald von Herzen zu hassen, denn er bekam es täglich ein gutes dutzend Mal zu hören:
"Du musst an deiner Disziplin arbeiten! Mehr Disziplin! Disziplin hilft bei allem, was man tut. Wo ist deine Disziplin?"Natürlich lehnte Alaric sich zunächst gegen alles auf. Er wollte nicht hier sein, niemand hatte ihn gefragt, ob er ein Mönch werden wollte, wie konnte man ihn einfach so dazu zwingen und ihn gegen seinen Willen hier festhalten, er hatte doch nichts Böses getan, warum wurde er bestraft!?
Und so sah der Alltag im Kloster aus: Die Betten waren hart, das Essen wenig und schmacklos, aufgestanden wurde vor dem Morgengrauen, und Pflicht war das tägliche Bad im eiskalten Gebirgsbach—auch im Winter. Alles, was das Leben leichter und bequemer machen könnte, fehlte und war verboten. Die Anbetung einer Gottheit war ebenfalls Pflicht, aber es wurde nicht vorgeschrieben, welche, solange die Gottheit Disziplin als Tugend anerkannte.
Die Mönche—rund fünfzig an der Zahl—sprachen nicht viel. Einige hatten Schweigegelübde abgelegt, aber auch die anderen redeten nur das Nötigste. Im Umgang mit den Novizen hieß das: Anweisungen, Ermahnungen, Tadel, niemals Lob. Wenn man einmal etwas richtig machte—was in Alarics Fall selten genug vorkam—gab es allenfalls ein knappes Nicken.
Und alles drehte sich um Disziplin. Alaric begriff nicht, warum. War sie Selbstzweck? Wie konnten die neun anderen Novizen sich nur so brav, so gleichgültig in alles hineinfügen?
Dreimal versuchte Alaric fortzulaufen. Beim ersten Mal, wenige Monate nach seiner Ankunft, kam er nicht einmal bis zum nächsten Bergdorf. Beim zweiten Mal, ein knappes Jahr später, schaffte er es tatsächlich bis in die Ausläufer der Berge, bevor die Mönche ihn—halbverhungert—wieder aufgriffen.
Man redete ihm zunächst gut zu. Man appellierte an seinen gesunden Menschenverstand. Dann versuchte man es mit Strafen. Prügel hatte er von seinem Vater auch des öfteren bezogen—
"Nur so lernt ihr Jungen!" hatte dieser stets behauptet. Deshalb beindruckte die Prügel Alaric wenig. Drei Wochen ohne Abendbrot—das schmeckte sowieso nicht, also sei's drum.
Doch dann kam Hairon Bergstille, der Novizenmeister, auf die Strafe, die Alaric das Fürchten und damit den Gehorsam lehrte: das Schweigen. (Hairon Bergstille hatte einst selbst ein Schweigegelübde abgelegt, das er aber nur einige Jahre durchhalten konnte. Seit dem Bruch seines Gelübdes tut er Buße. Für Alaric, den Aufsässigsten aller Novizen, schien er sich in besonderem Maße zu interessieren. Vielleicht hat er sich als Teil seiner Buße auferlegt, ausgerechnet diesen Jungen auf den rechten Weg zu führen.) Mit Schweigen also—ein halbes Jahr erzwungenes Schweigen!—trieb Hairon dem jungen Alaric den Eigensinn aus, brach seinen Willen, damit dieser aus den Scherben neu geschaffen werden konnte.
Wenn diese Maßnahme harsch und unmenschlich klingt, so muss man wissen, dass Alaric zuvor seinen dritten (und letzten) Ausbruch gewagt hatte. Da war er bereits vierzehn, und diesmal schaffte er es tatsächlich bis nach Niewinter zurück.
Aber im Haus seiner Eltern lebte inzwischen eine fremde Familie, die ihm nicht sagen konnte, was aus der seinen geworden ist. Fortgezogen, mehr wusste man nicht.
Alaric weinte—zum ersten Mal in vier Jahren und zum letzten Mal in seinem Leben. Da trat Hairon zu ihm. Seit über einer Woche war er als Hausgast bei der fremden Familie einquartiert gewesen und hatte auf Alarics Ankunft gewartet.
Er ließ den Jungen ausheulen, bis dieser vor Erschöpfung nicht mehr heulen konnte. Dann sprach er, zu Alarics Überraschung, einige wohlüberlegte Worte des Trostes.
"Endlich bist du bereit, Trost anzunehmen, mein Junge", schloss er.
"Vielleicht bist du auch bereit für die Wahrheit? Lass sie uns gemeinsam ergründen."Und dann kam der unangenehme Teil. Haarklein ließ Hairon sich von Alaric berichten, wie genau das alles vorgefallen war, damals, als der Vater die Mutter erwischte und die Familie zerbrach. Immer und immer wieder hakte er nach, bis die Wahrheit endlich aus Alaric herausbrach: Seine Schuld war es gewesen! Wegen ihm waren der Vater, das Schwesterchen und er noch einmal zum Haus zurückgekehrt, obwohl sie auf dem halben Weg in die Stadt hinein gewesen waren. Weil er etwas wichtiges vergessen hatte mitzunehmen, das er bei seinem Lehrmeister brauchte, gleich am ersten Tag seiner Ausbildung! Weil er ein Träumer, ein Hans-guck-in-die-Luft war, der immer etwas wichtiges vergaß, der nie ganz genau zuhörte, der immer mit den Gedanken abschweifte und nie ganz bei der Sache war. Seine Schuld allein war es, welche die Familientragödie ausgelöst hatte! Niemandem sonst konnte er die Schuld an seinem Schicksal geben außer sich selbst!
"Und das, glaubst du, ist die Wahrheit?" fragte Hairon erstaunt.
"Dass es alles deine Schuld war? Nun, dann ist es wohl die Wahrheit. Deine Wahrheit. Denn Wahrheit ist das, was wir im Herzen fühlen. Wahrheit ist etwas ganz Persönliches."Zurück im Kloster kam dann die Strafe. Einen Monat Schweigen legte Hairon ihm auf, damit Alaric einmal über alles in Ruhe nachdenken könne. Jeder Bruch des Schweigens, allerdings, wurde mit einem weiteren Monat auferlegten Schweigens bestraft. Gleich am ersten Tag brach Alaric es, als er stürzte und
"Au, verflixt!" rief. Und als Hairon ihn ermahnte, dass man nun schon bei zwei Monaten sei, da platzte es aus ihm heraus:
"Aber ich bin doch nur..."—"Drei Monate!"—"Wie soll ich denn..."—"Vier Monate!"—"Schneidet mir doch gleich die Zunge heraus, das ist nicht zu schaffen!"—"Fünf Monate!" Dann hatte Alaric es kapiert und hielt den Mund, aber einmal, etliche Wochen später, entfuhr ihm noch einmal ein Fluch, in Gegenwart seiner Kameraden, von denen sich jedoch gleich einer fand, der es Hairon berichtete, und die anderen bezeugten den Vorfall, als Hairon sie fragte, und so kam man schließlich auf sechs Monate Schweigen.
Danach musste Alaric erst einmal das Sprechen wieder erlernen. Er musste erst einmal wieder lernen, überhaupt zu irgendetwas eine Meinung zu haben. Aber sein Eigensinn, der brennende Wille, der ihn dazu angetrieben hatte, gegen sein Schicksal zu rebellieren, der war ihm gänzlich ausgetrieben.
Und nun begann sein eigentliches Training. Disziplin. Sie allein zählte. Sie machte stark. Sie machte gleichgültig. Sie sagte einem stets, was man zu tun hatte. Disziplin im Geist, Disziplin im Körperlichen. Auf seine Disziplin konnte man sich immer verlassen, so wie man sich auf Menschen nicht verlassen konnte. Disziplin half einem auch, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken und nicht davor zurückzuschrecken. Disziplin ließ einen alles ertragen.
Disziplin war Leben.
Als Hairon ihm einige Jahre später verkündete, dass seine Ausbildung abgeschlossen sei, dass er ihm nun nichts mehr beibringen könne, da gab er Alaric auch seinen Ordensnamen.
"Dein Schweigen ist wie ein Schatten, dein Zorn wie ein Fels. Dein Name sei Schattenfels."Die ersten fünf Jahre als Mönch:Fünf Jahre vergingen und Alaric lebte noch immer im Kloster in den Felsklüften, obwohl er oft unterwegs war. Ein knappes Dutzend Aufträge hatte er inzwischen für seinen Orden, bzw. für deren Auftraggeber, ausgeführt, die meisten davon erfolgreich. Sie führten ihn nach Luskan, Tiefwasser, einmal gar bis nach Baldurs Tor, und auch mehrmals zurück in seine Geburtsstadt Niewinter. Die letzten vier Auftrage waren Attentate gewesen. So hieß man das im Kloster allerdings nicht. Auch die Auftraggeber—allesamt Stadtfürsten oder sonstige Personen mit vom Gesetz verliehener richterlicher Gewalt—wählten beschönigende Ausdrücke dafür.
"Dienst am Volk" umschrieb es manch einer.
"Exekution unter Ausschluss der Öffentlichkeit" hielt Alaric dagegen, dem die Schönrederei missfiel. Sollten sie das Kind doch beim Namen nennen!
Es gab außer ihm nur noch einen unter den inzwischen 55 Mönchen, der solcherart Aufträge annahm. Dieser hieß Pendagast Tiefensee und war vor Alaric Hairons Schüler gewesen. Hairon selbst, als erklärter Anhänger Kelemvors, hatte früher solche Aufträge angenommen, bis seine Unfähigkeit, sein Schweigegelübde zu halten, ihn so erschütterte, dass er an sich selbst zu zweifeln begann. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, seine beiden Schüler in dieselbe Richtung zu lenken, die er einst selbst eingeschlagen hatte. Vielleicht hoffte er gar, dass ihre Leistungen auf dem Gebiet seine frühere Arbeit und seine Entscheidungen rechtfertigen würden.
"Unsere Arbeit ist notwendig", erklärte er.
"Und nur wenige sind dazu in der Lage, sie auszuüben. Es braucht dazu nämlich jemanden, der nicht nach Ehre und Ruhm strebt, oder gar nach Dankbarkeit. Es braucht dazu jemanden mit großer Überzeugung und Charakterstärke."Die Notwendigkeit dieser Art von Arbeit wurde auch von den anderen 52 Mönchen nicht bestritten, zumindest nicht kategorisch. Dennoch begegneten die Altersgenossen Alaric mit Misstrauen und Unverständnis.
"Wie bringst du das nur fertig, das ist doch kaltblütiger Mord!" wurde er seit seinem ersten erfolgreichen Attentat öfters gefragt. Alaric zuckte inzwischen nur noch mit den Schultern. Beim ersten Mal, als ihm diese Frage gestellt wurde, hatte er versucht zu argumentieren: Dass die Leute, auf die er angesetzt wurde, unausprechliche Verbrechen begangen hätten, sich aber durch List oder Magie, durch Schmiergelder oder einfach durch die Macht ihrer hohen Stellung dem Gesetz, das eigentlich für alle zu gelten habe, entzögen; dass der rechtmäßige Herrscher der jeweiligen Stadt sie deshalb nach so gut wie allen Regeln der Rechtmäßigkeit verurteilt hätte; dass ein Tod durch Hand eines Attentäters sogar gnädiger sei als die Alternative aus Kerker, Folter, Gericht und öffentlicher Hinrichtung; dass jeder, der die Todesstrafe für die Art Verbrechen, die da begangen würden, befürworte, nicht die Nase über seine Arbeit rümpfen dürfe... scheinheilig sei das!
Na ja, es war mehr als Naserümpfen, was seine Arbeit bei den anderen auslöste, und er erreichte nichts mit seiner Argumentation, also sparte er sich deren Wiederholung. Er kam trotz dieser Meinungsverschiedenheit ganz gut mit den anderen aus und gewann durch seine beispielhafte Disziplin und seinen schnörkellosen aber dennoch virtuosen Kampfstil ihren Respekt. Was er nicht besaß war ihre Freundschaft. Noch war ihm nicht bewusst, dass ihm etwas fehlte.
Der Rivale:Alaric besaß also keine Freunde, dafür einen Feind: den schon erwähnten Pendagast. Das hatte mehrere Gründe. Zunächst war Pendagast eifersüchtig auf Alaric, so wie der Erstgeborene eifersüchtig auf das Geschwisterchen ist, dem plötzlich so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, die zuvor dem Älteren allein gegolten hatte.
Zweitens hatte Pendagast ihm einmal erzählt, wie er seinen letzten Auftrag (also Attentat) erfüllt hatte—unnötig blutrünstig in der Ausführung, fand Alaric. Egal, was der Verurteilte verbrochen hatte, für Alaric ging es niemals um Rache oder Strafe, nicht einmal um Gerechtigkeit (über deren genaue Auslegung man sich nämlich trefflich streiten konnte), sondern einzig und allein darum, dass weitere Verbrechen verhindert würden, die Bevölkerung also vor diesem Scheusal beschützt werde.
Der Hauptgrund, warum Alaric Pendagast nicht leiden konnte, war allerdings folgender: vor gut zehn Jahren, als Alaric noch Novize war, hatte der feige Kerl versucht, ihn hinterrücks umzubringen. Zu zweit hatte Meister Hairon sie ins nächste Dorf geschickt, eine kleinere Besorgung für ihn zu tätigen, und auf dem Rückweg waren sie in ein fürchterliches Gewitter geraten. Pendagast hatte prompt die Gunst der Stunde genutzt und Alaric—vorgebend, ihm hilfreich die Hand hinzuhalten—stattdessen eine Felswand hinabgestoßen.
Alaric hatte Glück im Unglück und landete—mit diversen Knochenbrüchen—auf einem Felsvorsprung etwa ein Viertel des Wegs in die Tiefe. Pendagast aber entging dies im Dunkeln und so war er selbst es, der die Retter herbeiholte, obwohl er dem Meister doch nur hatte zeigen wollen, wo der arme Novize zu Tode gestürzt war—weil er mal wieder nicht auf Pendagast gehört hatte und diesem nicht dicht genug gefolgt war.
Alaric schwieg, als der Meister ihn zu dem Vorfall befragte, aber seither lebte Pendagast in Angst, Alaric könnte es ausplaudern und—schlimmer noch—der Meister könnte ihm glauben. Einen zweiten Anschlag getraute er sich dennoch nicht, weil der Meister dann wohl selbst zwei und zwei würde zusammenrechnen können.
Wie es Alaric nach Niewinter verschlägt:siehe
hierDas Zusammentreffen mit der Gruppe: siehe
hier