Die Kälte war wie Efeu. Still und leise, fast unbemerkt, begann sie, zu gedeihen, dann streckte sie ihre Ranken aus, sie erklomm und wucherte, bis sie vollkommen umschloss und verholzte… Ein dichtes, lästiges Gewächs, das seine Spuren hinterließ, den Eindruck gab, alles zu erdrosseln, woran es sich haftete. Die Kälte erdrosselte nicht nur den Lebenswillen, wenn sie sich durchs Fleisch fraß, sondern, zusammen mit dem peinigenden Hunger, auch jedwedes Ehrgefühl, wie es schien.
Wie vermutlich alle anderen hier hatte Elveran darauf gehofft, ein bisschen Nahrung zu ergattern. Sein Magen erinnerte ihn allein beim Gedanken daran lautstark, dass es dringend nötig war, etwas zu sich zu nehmen. Dennoch hatte Elveran nicht unbedingt seine eigene Versorgung im Sinn gehabt, während er in der Kälte auf den Halblingskarren gewartet hatte. In letzter Zeit hatte er alles, was er hatte entbehren können, ohne selbst Gefahr zu laufen, dem Hunger zu erliegen, an andere verteilt – hauptsächlich an Familien in den Flüchtlingsbarracken, aber auch an Straßenkinder, die ihm während seiner Streifzüge ans Herz gewachsen waren. Er ertrug es nicht, sie verhungern zu sehen. Auf Dauer würde das vermutlich unvermeidbar sein, so, wie die Lage im Moment war, jedoch hatte er nicht vor, dies zu beschleunigen, wenn es sich vermeiden ließ. Lieber verzichtete er am Ende selbst auf alles, wenn es ihnen nur half, über die Runden zu kommen.
Elveran konnte den Unmut gut nachvollziehen, der nun herrschte, jedoch war die schlagartig wachsende Anspannung, die vollends zu eskalieren drohte, sowohl besorgniserregend als auch inakzeptabel. Zum Glück war er nicht der einzige, der das so sah. Er erkannte den Mann, der vortrat, um den Volakhi zu verteidigen. Lavrenty Volkov hieß er, wusste Elveran, nicht nur einmal hatte dieser wohl recht charismatische Mensch seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wenn es sie zufälligerweise zur gleichen Zeit in die tröstende Wärme des
Red Dragon & Crescent verschlagen hatte. Zwar versuchte Lavrenty, den Mob aufzuhalten, und schnell hatte er auch Unterstützung durch eine junge Frau gefunden, aber Elveran gefiel die neue Richtung, in die sich das Geschehen entwickelte, ebenso wenig wie die vorherige.
So sah sich Elveran gezwungen, seine Komfortzone zu verlassen und sich selbst ins Rampenlicht zu rücken. Auch wenn die Stimmung aufgeheizt war, schälte er sich aus der Menge und versuchte, sich zwischen Menge und Volakhi zu drängen und sich Gehör zu verschaffen.
„Ich kenne viele eurer Gesichter!“, rief er der, in dieser Menge sehr bedrohlich wirkenden, Ansammlung an wütenden Hungernden entgegen. Sie alle lebten hier in der Nähe. Elveran begegnete ihnen fast täglich auf der Straße, merkte sich ihre Gesichter und las in ihren Augen und in ihrer gebeugten Haltung die Sorgen, die sie bedrückten.
„Wahrscheinlich ist, dass ihr meins nicht kennt!“Zumindest nahm er an, dass es so war. Wer achtete schon auf einen Schrottsammler? Er war jemand, der im Dreck wühlte, den Dreck von den Straßen räumte, eigentlich dem Mann gar nicht so unähnlich, der nun gerade vom Mob angefeindet wurde. Er bezweifelte, dass es mehr als zwei oder drei Leute hier gab, die wussten, wer er war. Dennoch nahm er sich heraus, alle hier zurechtzuweisen. Elveran war kein Mann, der gern Reden schwang… aber nun konnte er es zumindest versuchen.
„An guten Tagen meidet ihr mich“, erzählte er ihnen,
„und ich euch meist auch“, gestand er,
„an neutralen beachtet man mich mehr, als mir lieb sein könnte“, meinte er, mit einem schmalen, bitteren Lächeln,
„und an schlechten, da fühle ich mich fast wie ein Volakhi. Verachtet diesen Mann“, forderte er, ausladend auf den bedauernswerten Alten weisend,
„nicht für das, was er tut! Ich“, er nickte bekräftigend,
„zolle ihm meinen Respekt.“„Wer von euch kann nicht bezeugen, dass es furchtbar ist, den Tod zu sehen? Wem von euch zerreißt es nicht Herz und Seele, wenn es eure Nachbarn dahinrafft, eure Kameraden und eure Familienmitglieder – und ihr wisst, dass ihr selbst jederzeit der Nächste sein könnt? Die Nächste. Ja, selbst, wenn ihr Fremde tot auf der Straße liegen seht, und ihr den Blick abwendet und schnell weitergeht, regt sich etwas in euch. Warum sollte gerade dieser Mann hier Arbeit, von der jeder von euch zurückschrecken würde, auf die leichte Schulter nehmen? Glaubt ihr, ihm gefällt es, die Toten zu verladen und zu transportieren? Ich bezweifle das. Und glaubt mir, wenn ich euch sage: Es wird nicht einfacher mit der Zeit. Verhungerte Kinder, erfrorene Alte, einstmalige, von Krankheit entstellte Schönheiten, Opfer der Staublunge, totgeprügelte Invaliden… zu viele habe ich selbst schon gefunden – einsam, vergessen, verloren, in dunklen Ecken verreckt oder im Rinnstein liegend von euch ignoriert“, in seinem Ton schwang Anklage mit, und diese lag auch in seinem Blick, den er über die Menge schweifen ließ.
„Die Erinnerung an jeden einzelnen von ihnen begleitet mich Tag für Tag. Ich habe sie nie gezählt. Ihr solltet euch schämen, euch an diesem Mann und seiner Ladung zu vergreifen! Das steht euch nicht zu! Wenn ihn die Halblinge mit Nahrung geschickt hätten, würde er sie mit uns teilen. Er sieht wirklich nicht aus, als würde er sich selbst mit dem vollstopfen, was uns vorenthalten wird!“Es blieb zu hoffen, dass sie das einsahen. Der alte Volakhi hatte ebenso wenig Fleisch auf den Knochen wie alle hier.
„Und ihr beide“, wandte er sich nun mahnend seinen Vorrednern zu,
„solltet dem Hass lieber Einhalt gebieten als ihn anzustacheln! Mit wutschäumender Randale ist niemandem geholfen“, versuchte Elveran, wieder an alle gerichtet, die Vernunft Einzug gewinnen zu lassen,
„egal, ob sie nun gegen diesen Mann oder gegen die Fabrikbesitzer gerichtet ist.“Es war fraglich, ob diese Worte überhaupt etwas brachten. Natürlich war der Unmut berechtigt – und natürlich waren die Fabrikbesitzer nicht unschuldig. Sie waren die perfekten Sündenböcke, weil sie all das besaßen, was diese hungernden Leute begehrten. Allerdings, und das musste ihnen klarwerden, waren die Reichen nicht die einzigen Schuldigen.
„Denkt nach, Leute! Wenn ihr wollt, dass sich etwas ändert, dann denkt nach und handelt bedacht. Dann wird sich etwas ändern, ihr werdet sehen! Mit Blut erkauft man nur weiteres Leid. Es gibt andere Wege! Veränderung ist der Lauf der Dinge. Ihr müsst nicht bis in die Ewigkeit im Elend leben oder vorher genauso enden wie diese armen Teufel auf dem Wagen. Wir alle müssen das nicht! Ich habe diese Stadt wachsen sehen, sie verkommen sehen, immer mehr in den vergangenen Jahrzehnten. Ihr glaubt vielleicht, ich als Elf hätte eine andere Sicht auf die Zeit. Das habe ich bestimmt, doch wie ihr lebe ich im Jetzt, von Tag zu Tag, und jeder Tag ist eine Qual. Die Qual wird noch größer, wenn wir uns gegenseitig zerfleischen, statt uns beizustehen.“[1]