Seine Familie kann man sich nicht aussuchen oder: eine verhängnisvolle GeburtEin Tornado tobte über dem Lake Michigan und zog nur knapp nordöstlich an Chicago vorbei, als in der Nacht vom 21.6.1973 in einem der subburbs, in einem großen Herrenhaus aus der Civil-War-Ära,
Susan Morgana Kirke Webster in den Wehen lag. Es war eine schwere Geburt und Susan, eigentlich nicht wehleidig, schrie, bis ihr die Stimme versagte. Sie wusste es noch nicht, aber in dem Kind, das ihr geboren werden sollte, trafen zwei mächtige Blutlinien zusammen.
Susan Webster war eine Zauberin aus einem uralten (wenn auch vom Aussterben bedrohten) Geschlecht von Zauberern, das seine Ahnenreihe bis ins alte Griechenland verfolgen konnte (mithilfe von Feenwesen aus der Anderswelt, für die jene Zeiten noch gar nicht allzu lange her waren und die immer mal wieder versuchten, Mitglieder der Familie für ihre eigenen Zwecke einzuspannen.)
Lorenzo Serafino Webster, der Vater des Kindes—anwesend und nervös-besorgt—entstammte dagegen einem ebenso alten Geschlecht, auch wenn das am öftesten zititerte familiengeschichtliche Ereignis sich Ende des dritten Jahrhunderts ereignete, in der Nähe einer Stadt namens Lydda im Heiligen Land: der Kampf des heiligen Georgs gegen den Drachen. (In Wahrheit kämpfte hier eine kleine Armee gegen zwei Dutzend Drachen.) Nach dieser
Niederlage war man allerdings aus Nordafrika geflohen und hatte sich in Sizilien niedergelassen. Erst 1941 emigrierte ein Teil der Familie in die U.S.A. und errichtete in Chicago binnen weniger Jahre ein Pizza-Imperium.
Alles nur eine Front. Für die Mafia? Nicht direkt. Man war freischaffend. Man arbeitete nur für sich. Und zaubern konnte man auch. Das machte das Drachenblut. Marcone hieß das Geschlecht schon seit vielen Jahrhunderten. Lorenzo war ein uneheliches Kind des Capofamiglia höchstselbst, mit dem die Mutter, Eliza Webster, nur eine kurze Affäre hatte. (Er wurde im Taxi auf dem Weg zum Krankenhaus geboren; Eliza starb dabei, konnte aber, als man die Klinik endlich erreichte, dem panischen—und sehr erstaunten—Taxifahrer noch sagen, sie wolle das Kind nach ihm benennen; der Vater sei auch Italiener. So kam es, dass Lorenzo zwar einen italienischen Vornamen erhielt, aber kein Marcone ist. Die ganze Sache machte Schlagzeile, durch welche der Vater, Vito Salvatore Marcone, auf den Sohn aufmerksam wurde, ihn zu sich holte und zu einem richtigen "Drachen" erzog.)
Enzo, wie Lorenzo sich gerne nennen ließ, war ein gutaussehender junger Mann von 32, als Susan Webster, damals noch Carmichael, ihn traf und sich Hals über Kopf in ihn verliebte. Er schien ihre Gefühle jedoch nicht zu erwidern: so heiß und leidenschaftlich die Liebesnächte auch wurden, so kühl blieb er bei Susans Versuchen, über eine gemeinsame Zukunft—oder auch nur ihre Gefühle für einander—zu reden. Bald wurde Susan klar, dass es für ihn nur eine Affäre war, deren Tage gezählt waren.
Doch nicht umsonst war ihr dritter Vorname Kirke. Bezauberungen waren es, wo ihr magisches Talent lag. Und so setzte sie ihr ganzes Können, ihren Mut und ihre Kreativität ein und braute einen mächtigen Liebestrank für ihren Angebeteten. (Die Hauptzutat für den Trank erhielt Susan übrigens von einer Fee aus der Anderswelt—im Austausch für das gefährlich allgemein gehaltene Versprechen, dieser in ähnlich verzweifelter Lage auch einmal zu helfen.) Zwei Wochen später fand die Hochzeit statt.
Enzo war also gar nicht freiwillig bei Harrys Geburt dabei; ein Umstand, der sich zu dem Zeitpunkt aber seiner Kenntnis entzog. Dafür wusste er etwas, das seine Frau nicht einmal ahnte: dass sie bei der Geburt sterben würde. Alle Frauen, die nicht selbst Drachenblut besaßen, starben bei der Geburt eines Drachen. Der Vater hatte es ihm deutlich vorgelebt: Der Vater hatte es ihm deutlich vorgelebt: sechs Halbgeschwister besaß Enzo, selbst der mittlere der sieben, alle von unterschiedlichen Müttern, und nicht eines davon hatte die Mutter kennengelernt.
Wie konnte ich nur? dachte er verzweifelt.
Wie konnte ich das der Frau, die ich so sehr liebe, nur antun?Dennoch hatte er auf einer Hausgeburt insistiert. Natürlich hätte ein Kaiserschnitt ihr Leben retten können, aber das des Kindes wäre dann verdorben: im Labor irgendwelcher skrupelloser Wissenschaftler würde es enden; genetisch untersuchen würde man es und weiß der Teufel noch alles mit ihm anstellen—und Susan vielleicht gleich mit. Und die Schlagzeilen am nächsten Tag, die mochte Enzo sich gar nicht vorstellen.
Und so kam es, dass Harry sich in jener stürmischen Sommernacht ohne Hilfe der Medizin seinen gewaltsamen Weg aus dem Leib der Mutter bahnte, die kurz darauf verblutete und mit deren Tod er auch den Vater verlor. Dieser—vom Liebeszauber erlöst—blickte dennoch ein wenig traurig auf die beiden blutigen Körper.
"Oh Susan, murmelte er.
"Du dummes Ding! Es gab einen Grund, warum ich dich nicht näher an mich heranlassen wollte. Man darf das Schicksal nicht zwingen wollen..."Dann strich er seinem Sohn, welcher sich gleich nach der Geburt verwandelt und nun wie ein normales Menschenkind aussah, einmal über den Kopf. Die Augen des Jungen waren bernsteinfarben und tief in ihrem Inneren tanzten winzige Flammen. Zumindest sahen sie so aus, als er dem Blick des Vaters begegnete. An den Augen erkannten Drachen einander. Für Normalsterbliche mochten die Augen des Kindes blau, grün, braun oder grau sein—Enzo hätte es nicht sagen können.
Er wandte sich ab und überließ das Neugeborene dem still weinenden Großvater.
Dieser gab dem Kind den Namen
Harry Aleister Mulholland Webster.
Kindheit beim GroßvaterUnd so wuchs Harry die ersten zwölf Jahre seines Lebens beim Großvater auf.
Mortimer Nicolas Paracelsus Carmichael—ja, es war Familientradition, seinen Kindern drei Vornamen zu geben, der zweite und dritte davon jeweils nach berühmten Zauberern vergangener Zeiten, quasi als Schutzpatrone—unterwies Harry in der Kunst der Magie, obwohl er manchmal daran zu verzweifeln drohte: dem Jungen mangelte es so gänzlich an Subtilität! Alles, was Harry anging, machte
Wumm! Knall! Oder
Peng! Und meistens brannte hinterher irgendwas oder zumindest war das ganze Zimmer voller Rauch.
Dann griff der Großvater sich eines Tages, während einer Theorie-Stunde, ans Herz, kippte um und war tot.
Was danach geschah, hat Harry bis zum heutigen Tag keiner Menschenseele erzählt. (Er ist sich auch gar nicht mehr so sicher, ob es wirklich passiert ist oder er es sich in seinem Schockzustand nur eingebildet hat.) Jedenfalls war der Notarzt noch nicht da, da tauchte eine sehr fremdländisch wirkende Dame auf, stellte sich als
Grian Summer vor und behauptete, Harrys Patentante zu sein, genauer: seine "fairy godmother". Sie wolle sich gern um ihn kümmern. Mit in das Feenreich wolle sie ihn nehmen und dort großziehen und ihn auch im Zaubern unterweisen. Zu einem ganz großen Zauberer wolle sie ihn machen! Und dann müsse er ihr einen Gefallen tun. Nicht, weil sie ihm geholfen habe, sondern um das Versprechen seiner Mutter einzulösen, wie es seine Pflicht sei. Harry sah nicht ein, warum das seine Pflicht sein sollte. Er hatte der Fee schließlich nichts versprochen! Sie hielt dagegen: "Ohne mich wärst du niemals geboren worden! Außerdem hast du deine Mutter getötet. Nach Feengesetz ist der Mantel ihrer Verpflichtungen damit auf dich übergegangen." Doch sie konnte ihn nicht zu Mitkommen bewegen (und auch nicht zwingen; nach Feengesetzen funktionierte so etwas nur, wenn es auf freiwilliger Basis geschah...)
"Wir sehen uns wieder", sagte Grian.
"So leicht gebe ich nicht auf." Und dann traf endlich der Notarzt ein, der aber nur noch den Totenschein für den Großvater ausstellen konnte.
Die zuständige Behörde kontaktierte Harrys Vater. Dieser kam auch und blickte Harry, der ihn zum ersten Mal sah, mit demselben traurigen Blick wie schon in der Geburtsnacht an.
"Ich hatte gehofft, der alte Mortimer würde durchhalten, bis du achtzehn bist", sagte er.
"Ich hätte dir gern erspart, was nun kommt."In der Höhle des DrachenDen Vater sah Harry in den nächsten Jahren wenig. Ein einziges Mal, als Harry in das Alter kam, wo er sich für Mädchen zu interessieren begann, nahm der Vater ihn beseite und erklärte ihm, was passieren würde, wenn er eines davon schwängerte. Ansonsten waren es die Tanten und Onkel, manchmal gar Großvater Marcone in höchsteigener Person, die sich um Harrys Ausbildung kümmerten. Und die sah nun etwas anders aus als bei Großvater Mortimer.
Zunächst fand Harry es toll: endlich konnte er sich so nach Herzenslust austoben.
Knall, Peng, Bumm! Und wenn's brannte, was machte das schon—der Feuerlöscher stand gleich nebendran!
Dann wurde ihm mulmelig. Es gab nämlich so einige Dinge—Grundlagen hatte Mortimer es genannt, oft sogar: Überlebensgrundlagen—die die Sippschaft Marcone anders zu sehen schien. Also im wesentlichen die sieben Gesetze der Magie, als da waren:
(1) Magie ist die Kraft der Schöpfung; es ist verboten, ein lebendes Wesen, mit dem man durch die Bande der Schöpfung verknüpft ist (im folgenden "Geschöpf" genannt"), mit Magie zu töten.
(2) Es ist verboten, einem anderen Geschöpf mithilfe von Magie seinen Willen aufzudrängen und ihm so Schaden zuzufügen.
(3) Es ist verboten, andere Geschöpfe mithilfe von Magie gegen ihren Willen eine Gestalt aufzuzwingen.
(4) Es ist verboten, andere Geschöpfen mithilfe von Magie um Haus, Hof, Hab und Gut oder Lebensunterhalt zu bringen.
(5) Es ist verboten, Wesen aus überirdischen oder unterirdischen Sphären zu rufen und diese seinem Willen zu unterwerfen und zu befehlen, anderen Geschöpfen Schaden zuzufügen.
(6) Es ist verboten, tote Körper mit Geistern oder Dämonen "wiederzubeleben."
(7) Jede Manipulation von Zeit ist verboten. Dazu gehört auch der Versuch, Tote wiederzuerwecken.
Das alles (außer vielleicht den letzten Punkt) sahen die Marcones anders. Der Großvater hatte nur vage erklärt, dass es irgendwo einen sogenannten "Weißen Rat" gebe, der sich um magische Gesetzesbrecher kümmere, doch wenn dem so war, dann versäumten sie es mit unfassbarer Regelmäßigkeit, die Marcones für ihre Verbrechen zu bestrafen oder auch nur zu ermahnen.
Zu einem Enforcer sollte Harry herangezogen werden. Einem thug, einem Mann fürs Grobe. Oder, wie die Marcones es liebevoll nannten, einem "troubleshooter." Das war wörtlich gemeint, erkannte Harry eines Tages. In diese Richtung wurde Harry rund um die Uhr, tagaus, tagein und von allen Seiten her gedrängt, bis er aus reiner Erschöpfung beinah nachgegeben hätte.
Berufliche SelbstfindungDoch er gab nicht nach. Der Tag, an dem der erste kill von ihm erwartet wurde, kam und ging und Harry hatte dem Druck standgehalten. Und dann war der tiefste Punkt plötzlich überwunden. Je mehr seine Tanten und Onkel ihn in den folgenden Jahren in Richtung der kriminellen Familiengeschäfte drängten, desto größer wurde Harrys Entschlossenheit, für die Gegenseite zu arbeiten: für Recht und Ordnung. Oder vielmehr stellte er sich auf die Seite der (potentiellen oder tatsächlichen) Opfer all jener Verbrechen, gegen die das Chicago Police Department nicht vorgehen konnte, weil dort niemand ahnte, welche Kräfte in ihrer Stadt neben den normalmenschlichen denn noch alles verbrecherischen Einfluss ausübten.
Es war nicht einfach, sich von seiner Familie loszureißen. Wenn es ihm gelang, dann war es vielleicht zu einem Großteil seinem Vater zu verdanken, welcher sich von seinen Halbgeschwistern in sehr deutlicher Sprache ausbat, seinen einzigen Sohn in Ruhe zu lassen, damit dieser sein Leben leben könne, so wie er es für richtig halte.
Diese väterlichen Gefühle gingen allerdings nicht so weit, dass Enzo aus Mortimer Carmichaels Herrenhaus, welches er seit dessen Tod bewohnte, wieder ausgezogen wäre oder Harry auch nur einen Dollar aus dem Erbe ausbezahlt hätte. Und obwohl alles aus Großvater Mortimers Besitz eigentlich Harry gehören müsste, war dieser einfach nur derart froh, dem Marcone Clan entkommen zu sein, dass er keinen Gedanken daran verschwendete, wie er wohl sein Erbe würde einklagen können. (Zudem er eh keine Chance sah. Die Justiz im ganzen Bezirk stand fest auf der marconischen Besoldungsliste.)
Es dauerte zwar einige Jahre, aber dann hatte Harry tatsächlich eine P.I. Lizenz erworben sowie eine kleine Detektei aufgebaut, mit den entsprechenden Kontakten und Clientele und einem schäbigen Ein-Raum-Büro downtown, nahe der lakefront. Und so konnte er sich seit nicht ganz zwei Jahren mit seiner Detektivarbeit halbwegs über Wasser halten.
Folgende drei Hinweise kann ein potentieller Neuklient auf seiner Bürotür lesen:
Harry Webster, Paranormal Investigations(metallenes Türschild)
Lost items found. Missing persons found as long as they want to be found. We deal with haunted houses, fairy infestations, and find the loophole in your contract with any supernatural entity—if there's one to be found. No love potions. No vodoo dolls, hexes, jinxes or curses. No parties or other entertainment. Reasonable Rates.(Nadeldrucker auf Papier, unter dem Schild mit Heftzwecken befestigt)
No crank calls, please! (gelber Post-it Zettel darunter, in Kuli)
Hin und wieder gibt es noch den gelegentlichen (unangemeldeten) Familienbesuch oder das nicht vermeidbare Familienfest. Hochzeiten, Kindstaufen, der jedes Jahr groß gefeierte Geburtstag des "alten Drachen" (alias Großvater Marcone). Dies waren nicht die schönsten Momente in Harrys Leben.
Aber das Schicksal sollte noch schlimmeres für ihn bereithalten...
Von Chicago nach KurunEpisode 1:
Harry meets HenryEpisode 2:
Henry & Harry meet JurijEpisode 3:
Henry & Harry im Hause ChangEpisode 4:
Misadventures in TollbridgeEpisode 5:
Harry meets Aleister (letzte Nacht in Brückenstadt)