Im Wald wird es dunkel.
Rötliche Strahlen letzten Sonnenlichts fallen in Stäben und Fächern auf den feuchten, von Blättern bedeckten Boden. Es wird allmählich kühler, wenn auch kaum merklich.
Bald werden selbst die hartnäckigsten Chöre verstummen und sich der Stille ergeben, wie sie nur nächtens in diesem endlosen Grün möglich ist.
Es ist niemals
wirklich still, auch jetzt nicht. Irgendwo brüllen Affen, Vögel singen ihr Abendlied und der Wind trägt den Ruf irgendeiner großen Bestie aus der Ferne heran. Im Unterholz raschelt es unablässig. Wohin sie auch schaut, überall erblickt Shautha nichts als unbändiges Leben.
Ihre Augen haben sich längst an das einkehrende Zwielicht gewöhnt. Für ihre Art macht es keinen Unterschied, ob ihnen die große Sonnenscheibe oder die Zwillingsmonde Licht spenden. Sie ist ohnehin gewohnt, unter Baldachinen aus beschirmenden Blattwerk zu wandern. Auch in ihrem Heim herrscht die meiste Zeit über nur gedämpftes Licht.
Die Druidin merkt auf, als ihr ein neuer, mandelartiger Geruch in die Nüstern steigt.
Die schiere Fülle an solch neuen Eindrücken ist selbst nach Wochen noch überwältigend. Einige Aromen sind ihr seit kurzem oder bereits seit längerem bekannt, die meisten aber völlig fremd. Nicht alle sind angenehm.
Mit jedem Schritt sinkt die sie ein wenig in den Humus ein. Klamme Feuchtigkeit breitet sich um ihre Füße herum aus. Mit ihren Zehen kann sie das feine Wurzelwerk erfühlen, das den gesamten Boden des gewaltigen Waldes wie ein Spinnennetz durchzieht.
Ab und zu muss sie massiven Wurzeln ausweichen, die wie graue Felsen den hunderte Schritt hohen Stämmen entsprießen. An ihrer zerfurchten Rinde wachsen Pilze und bunte Flechten. Auch sie verströmen eine ganz eigene Duftnote, erdig und schwer.
Erst vor wenigen Stunden ging vor solch einer oberirdischen Wurzel ein wahrer Früchteregen auf sie nieder. Die Affen warfen verächtlich von den Wipfeln herab, was ihrem Gaumen nicht delikat genug dünkte. Entgegen dem quiekenden Protest eines Schweins las sie in weiser Voraussicht einige Feigen auf, bevor sie weiterzog
[1].
Dankbar blinzelt sie in die Welt aus Ästen und Lianen über sich. Diesmal regnet es zwar keine Nahrung, Segen wird aber trotzdem zuteil. Mit dem Scheiden der unbarmherzig brennenden Sonne fällt das Wandern merklich leichter. Bald werden die Raubtiere aus ihren Verstecken aufbrechen, um zu jagen. Tagsüber ist es dafür zu heiß.
Trotz der einkehrenden Kühle schwitzt sie unablässig, schlimmer noch als in ihren heimatlichen Gefilden. Alle paar Schritt zerquetscht sie irgendein Insekt auf ihrer Haut, sodass sie inzwischen wie mit Dreck besprenkelt aussieht. Es gibt nicht an einen Quadratzentimeter Stoff an ihrem Leib, der nicht klebt.
Die letzten Schlucke Wasser, die ihr Schlauch zu bieten hat, sind eine wahre Wohltat. Glücklicherweise vernimmt sie in der Nähe das leise Gluckern eines Bächleins, wie es sie überall in diesen Wäldern zu geben scheint.
Tatsächlich findet sie nur wenige Schritt entfernt einen kleinen Bachlauf vor. Erschrocken zuckt ein Zwerghirsch bei ihrem Anblick zurück und flieht in das Dickicht. Sie darf es wohl als Kompliment auffassen, so nah an ein solch scheues Wesen herantreten zu dürfen.
Die über dem Nass tanzenden Mücken sind bereits ein gewohnterer Anblick als der kleine Säuger. Noch beim Herabbeugen spürt sie ihre gierigen Stiche.
Als Shautha geduldig ihren Säcklein füllt, bemerkt sie einige seltsame, knorrige Pflanzen auf einer kleinen Lichtung etwa ein Dutzend Schritte entfernt. Sie erinnern vage an kauernde Männlein, obwohl ihnen Äste und grünes Blattwerk entspriessen. Irgendetwas an der Art, wie sie verteilt stehen scheint seltsam, als läge Absicht dahinter.
Das Befremdlichste aber ist, dass sich die Druidin plötzlich beobachtet fühlt.
Kopfschüttelnd wendet sie sich dem Leder in ihrer Hand zu und verschließt den Schlauch geübt. Ihr Gepäck ist leicht und er schnell verstaut. Sein leises Glucken ist ein beruhigendes Garant dafür, trotz aller Wahrscheinlichkeit nicht vor lauter Schwitzen auszutrocknen.
Etwas raschelt leise. Automatisch blickt sie auf und sieht die Kolonie der verholzten Pflanzen ein paar Schritt entfernt.
Die Lichtung ist leer.
*
Khaya ist wieder einmal auf der Flucht.
Eigentlich sollte er diese Misere gewohnt sein, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ihm das Schicksal einen Streich spielt. Besser wird es dadurch trotzdem nicht.
Wenigstens wird es langsam erträglich im Wald. Den Verlust der Taghelle wiegt nicht weiter schwer; unter den Kronen der Baumriesen herrscht ohnehin ewige Dämmerung. Das Problem sind die großen Raubkatzen, die bald durch das Unterholz pirschen werden.
Übergangsweise hat er sich in einer Astgabel nur wenige Schritt über dem Boden niedergelassen. Vorerst kann er dort bleiben. Zwischen seinen Zähnen wendet er einen Grashalm hin und her.
Der Stamm ist warm und die Rinde nicht allzu rau. Man kann sich bequem ausstrecken, ohne den Halt zu verlieren.
Träge blinzelt der unfreiwillige Vagabund eine stark frequentierte Ameisenstraße neben seinem Kopf an. Die schwarz-beigen Tiere eilen hoch und herunter, als gäbe es kein Morgen. Sie tragen Teile von Blättern und anderen Insekten mit sich herum. Ab und zu bleibt eine stehen und schwenkt fast drohend die Fühler in seine Richtung, bevor sie sich wieder vom Strom ihrer Artgenossen mitreißen lässt.
Von einem nahen Ast blinzelt ihm ein Paradiesvogel zu. Als er den Blick des Tieres erwidert, legt es fragend den Kopf schief und tschilpt einen Kommentar. Demonstrativ plustert es die blaue Brust auf. Es klingt um einiges melodischer als der Lärm, den man in Weltenende an jeder Ecke zu hören bekommt.
Überhaupt hat der Dschungel seine Vorzüge. Die meisten Schreckensgeschichten über sein Inneres sind maßlos übertrieben und zeugen von der Angst und Unsicherheit der ach so tapferen Kolonialisten. Die meisten von ihnen nehmen bereits die Beine in die Hand, wenn sie ein Gibbon anfaucht oder sich etwas Großes im Geäst bewegt.
Totaler Schwachsinn, bedenkt man die Lebensumstände in der Stadt. Gehört man nicht einer Bande an, wird man entweder von Bilbobar oder den Kaufmannsfamilien ausgebeutet. Allein ist man dazu verdammt, einer dieser Träger zu werden, die nach wenigen Rücken einen Rücken krumm wie ein Greis haben.
Seit fünf Tagen ist er jetzt fort. Es ist ausgeschlossen, so tief im Wald noch gefunden werden zu können. Das Territorium der Giftdämmerung ist nur noch einige Meilen entfernt. Sperrgebiet für die Lakaien der Herrscher Weltenendes. Skrupellose Bastarde!
Völlig in Litanien über das Drecksloch am Meer versunken bemerkt Khaya die Fremde zunächst gar nicht, die sich am nahen Bachlauf gütlich tut. Erst, als seine Wahrnehmung ihm einen metaphorischen Tritt gibt, schreckt er auf und begreift, was da gerade vor sich geht.
Eine knapp bekleidete, ungerüstete Orkfrau kniet seelenruhig vor einer Kolonie aus fünf Zweigschrecken, als sei sie nicht Momente davon entfernt, in Dünger verwandelt zu werden.