Doch Bolbas findet leider wenig Gehör bei seinen Kameraden – wie auch, wenn sich die Mehrheit bereits zwischen Tür und Angel des Wirtshauses befindet, während er beschließt, die merkwürdige Vagabundentruppe zu befragen. Sollte der Jorasco ebenfalls ein Zimmer wünschen, so kann er nun nur darauf hoffen, dass seine Gefährten an ihn denken, denn die Ermittler sind nicht die Einzigen, die die Gunst der Stunde im „Maison Aundairien“ bemerkt haben: Ein paar Händler mustern das Gasthaus bereits neugierig und machen sich auf den Weg, eines der Zimmer zu ergattern.
Doch die Helden sind dank der schnellen Reaktion des Zwerges zuerst bei der Wirtsfrau. Die rundliche Frau mustert die Anwesenden, und schnaubt wieder den Orkblütler an. „Da siehst du‘s! Im Nu hab ich die Zimmer wieder voll, da brauch ich die Vagabunden nich‘! Der Khyber soll sie holen“, sagt sie mit einem schroffen Stimme. „Also, sieben Betten ham‘wa frei. Ihr seid...eins, zwei...drei, vier...“, beginnt sie die Helden durchzuzählen.
Ghart, der jedoch keine Lust hat, dass irgendein Fremder möglicherweise in ihrem Zimmer haust, klopft mit der Faust auf den Tresen. „Alle! Wir nehmen alle Betten!“, unterbricht er sie. „Für mindestens drei Nächte!“
Die Frau ist sofort still und nickt zufrieden. „Siehste, du Saukerl, alle Bettn, sofort weg! Auf das Frühlingsfest ist doch noch Verlass!“ Kurzerhand greift sie unter den Tisch, holt ein paar Schlüssel heraus und knallt sie dem zwerg vor den Latz. „Zimmernummer 6 und 7, is’n Vierer und ‘n Dreier. Alles im ersten Stock. Frühstück gibt’s ab Morgengrauen, wer zuerst kommt malt zuerst. Abends gibt’s auch was zu futtern. Nen Waschraum gibt’s auch da oben. Macht dann...ähm...fünf Silber...Moment!“ Sie holt einen Notizblock hervor, auf dem sie mit einem abgebrochenen Kohlestift zu kritzeln beginnt und sich mit der Zunge über den Mundwinkel leckt. „Sieben mal fünf...Äh...zwei...drei im Sinn...Hm...Ach wa, zehn Galifar macht das für alle. Ungefähr. Her damit! Nen Stall für Sauviech gibt‘s hinterm Haus. Noch Fragen? Nee? Dann angenehmen Aufenthalt!“ Sie streckt ihre vom Spülwasser verschrumpelte Hand aus und wackelt ungeduldig mit ihren Fingern. Ghart kramt das Gold aus seiner Tasche, bevor einer der anwesenden Händler, die wie Aasgeier um den Tresen wedeln, sich vorzudrängeln versucht, und lässt es der Wirtsfrau in die Hand fallen. Sie steckt es wiederum in ihre Schürze und greift nach ihrem Küchengerät und wendet sich um, um in der Tür hinter ihr zu verschwinden, aus der ein köstlicher Duft strömt. „Dummbeutel!“, zischt sie dem Halbork noch zu, bevor die Tür knarrend zufällt.
Die Helden können nun ihrer Körperpflege nachgehen, die sie sich nach der grauenvollen Reise des Schreckens der vergangenen Tage wohl verdient haben.
Bolbas spricht unterdessen mit dem rausgeworfenen Vagabundentrupp. „Hört hört!“, sagt der Menschenmann, der im Status seiner Ungepflegtheit Harry in nichts nachsteht. „Muntere Leutchen nennt er uns!“ Die beiden Elfinnen reagieren gar nicht, sondern schreiten weiter in die eingeschlagene Richtung, während die beiden Halblinge sich wenigstens um blicken, auf Schritt gefolgt von dem Kriegsgeschmiedeten. Der Wandler schaut skeptisch den Menschenmann an. „Was gibt es Neues?“, äfft er Bolbas nach, und beide beginnen zu schmunzeln.
Dennoch – der jüngere Halbling ergreift das Wort. „Öhm...was meint Ihr mit „Was gibt es Neues“? Kennen wir uns? Ich glaube nicht! Also kann es auch nichts Neues geben“, erwidert er auf Halblingisch, wobei Bolbas auffällt, dass er sich in einer ungewohnt melodischen, sanften und klangvollen Sprache ausdrückt. „Wir arbeiten beim Zirkus, der hier in den nächsten tagen gastiert – leider werden wir immer im Nachhinein bezahlt, und so konnten wir die Alte nicht bezahlen“, sagt er zwinkernd. „Was man auf keinen Fall verpassen soll? Unseren Zirkus natürlich. Gregor Grebonowitsch’s Famösestes Kabinett – so heißen wir“, sagt er mit stolzer Brust. Doch er wird jäh unterbrochen von einer der Elfinnen. „Jon, schaff deinen Arsch hierher, sonst verpassen wir noch die Proben, du Trottel!“, schreit sie aus zehn Metern Entfernung. Der junge Halbling zieht seinen Hut und macht sich eilend auf den Weg, die Anderen einzuholen. „Kommt ins Zirkuszelt!“, ruft er Bolbas zu, als er sich noch einmal umdreht.
Nach einigen Minuten kommen auch seine Gefährten wieder aus dem Gasthaus – frisch gewaschen und zumindest etwas erholter als zuvor, was den Nasen aller Anwesenden zu Gute kommen dürfte. Nun kann sich endlich den Leichen gewidmet werden, doch Bolbas muss erkennen, dass es zumindest auf offener Straße wohl keine Gelegenheit gibt, diese zu untersuchen – es sei denn, die Truppe möchte weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. So bleibt nichts übrig, als das Hauptquartier der Stadtwachen aufzusuchen mit der Hoffnung, dort noch Gelegenheit zu einer Obduktion zu erhalten.
Unterwegs wissen die Ortsansässigen zu berichten, dass die hiesigen Stadtwachen eher minimal sind – bisher gab es nie großartigen Anlass, eine starke Wache aufzubauen, denn eigentlich herrscht ein friedliches Leben in Sayandras Garten. Mit Mordfällen will man erst recht nichts zu tun haben, und die Aktivitäten der Wachen beschränken sich darauf, einfach Delikte wie Drogenhandel zu unterbinden oder arg Betrunkene in Gewahrsam zu nehmen. Sogar Diebstähle sind eher selten, oder sie fallen erst gar nicht auf, wenn es sich um kleinere Vergehen handelt – die Felder um die Stadt sind dank der Manifestationszone Lammanias dermaßen reichhaltig, dass die Bauern manchmal eh nicht alles ernten können, was sie vom Boden geschenkt bekommen. Hunger ist den Bewohnern dieser Stadt jedenfalls fremd.
Anders verhält es sich jedoch, so kann zumindest Bolbas feststellen, mit den Händlern auf den Märkten, was auch logisch ist: Haben sie sich erst einmal die Arbeit gemacht und ihre Waren geernet und in die Stadt gekarrt, und es winkt bereits Silber oder gar Gold für den verkauf, hat man ein ganz anderen Auge für fehlende Güter. Und so kam es zu den Gerüchten, die dem Halbling zu Ohren kamen, während er sich den Jahrmarkt angeschaut hatte.
Nach einer guten halben Stunde haben die Ermittler Tempelsee erreicht, wo sich auch das Hauptquartier der Wachen befindet. Es bietet einen ernüchternden Einblick: Diejenigen Helden, welche aus größeren Städten wie Sharn kommen, sind etwas andere Maßstäbe gewohnt, wenn es um die Sicherheit einer Stadt geht. Das Haus – oder besser Häuschen – ist sehr unscheinbar und kann undenkbar als Dienststelle einer großen Organisation fungieren. „Hier während wir“, sagt Scarlet.
Als die Helden anklopfen, ist von innen eine quitschende Frauenstimme zu hören. „Herein, Boldrei sei mit Euch!“ Auch vom Inneren haben die Ermittler einen bescheidenen Eindruck. Es stehen vier Schreibtische da, aber nur einer – eine Art Empfang – ist besetzt. Eine zierliche Menschenfrau mit zerzaustem, braunem Haar sitzt mit überkreuzten Beinen da, ihre runde Brille tief auf der Nase. Sie hat mehrere Stapel Papiere und Ordner vor sich und knabbert an einem schäbigen Stift. „Was kann ich für Euch tun?“, fragt sie höflich.
Kurze Zeit später – die Frau, welche sich als Sally vorgestellt hat, wurde von den Helden über die furchtbaren geschenisse aufgeklärt – finden sie sich alle in einer angrenzenden kleinen Halle wieder. „hier ist es. Das ist unsere...Leichenhalle. Sie ist nicht oft in Benutzung, müsst ihr wissen. Schaut, wie verstaubt die Bahren sind!“, sagt sie, während sie mit ihrem zeigefinger über eine der drei tischartigen Möbelstücke in der Mitte der Halle fährt. „Ich weiß gar nicht, wann wir den letzten Mordfall hatten. Ich glaube...ich kann mich nicht mal dran erinnern. Das muss während des Letzten Krieges gewesen sein. Aber damals...damals war ja alles nur Mord und Totschlag, nicht wahr?“, sagt sie mit betroffener Stimme.
Kurze Zeit später erscheint der Hauptmann der Wache, nach dem sie zuvor gerufen hatte. Er ein stämmiger Kriegsgeschmiedeter, dem man durchaus zutrauen könnte, in seinem kurzen Leben bereits den ein oder anderen Kampf erfolgreich bestritten zu haben. Er hat einige Kerben an seinen Beinen und Armen und einen tiefen Schnitzer quer durchs Gesicht. Seine Augen funkeln orange, als er beginnt zu sprechen. „Mein Name ist Hauptmann Block“, sagt er in monotonem, sachlichem Tonfall. „Sally sagte, ihr habt Morde zu melden und die Leichen mit der Karawane transportiert? Wer von Euch ist Stordan Orien?“, fügt er hinzu. Seine Stimme klingt geduldig, aber bestimmt, und keinesfalls ist es die Stimme eines leblosen Konstruktes. Block scheint einer jener Kriegsgeschmiedeter zu sein, der sich nach seiner Dienstzeit im krieg darum bemüht, ein akzeptiertes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Er trägt ebenso wie die fleischlichen Bewohner Khorvaires Kleidung aus Stoff, und sogar Lederschuhe. Sein Blick wandert ruhend über die Ermittler, und fast könnte man meinen, so etwas wie Interesse in seinem stählernen Antlitz zu erkennen.