7. Dezember 1863 - Am Morgen des Krieges? - 18:14 Uhr - Gut Emkendorf
Stiehle kratzte sich den Bart und blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen der Kutsche hinterher, kräuselte leicht die Lippen und berührte sie dann mit seinen Schneidezähnen. Er wirkte wieder deutlich nervöser, denn er spürte, dass Gefahr in der Luft lag, aber scheinbar gefiel ihm diese Entwicklung, zumindest für den Moment.
"Was auch immer unsere Feinde für uns geplant haben, Herr Leutnant. Das Auftauchen dieser Kutsche ändert es. Ob es nun echte Preußen sind oder die Männer, die in dieser ganzen Chose auf die ein oder andere Art verwickelt sind, unsere Chancen hier mit heiler Haut herauszukommen sind gerade rapide gestiegen. Manchmal muss einem das Unvorhergesehene eben genauso verlässliches Werkzeug sein, wie der eigene Plan." Stiehle duckte sich während seiner Worte und deutete seinen Männern an, ihm das gleichzutun. Jetzt hatten sie wahrscheinlich sogar die Chance ungesehen aus ihrem Versteck zu kommen, sollten sie entdeckt worden sein. Kämpfe gegen unsichtbare Gegner, so denn Le Tortionnaire noch immer auf der Lauer lag, waren immer schrecklich. Darauf konnte man keinen Rekruten vorbereiten; selbst Soldaten, die in einigen Feuergefechten gekämpft und sie überlebt hatten, ob verwundet oder nicht, gewöhnten sich nie an diesen besonderen Druck, den feindlichen Schützen nicht sehen zu können. Hier gab es immerhin keine Coehoorn-Mörser
[1], und die Pioniere hatten keine Gräben ausgehoben, um sich einigermaßen dagegen zu schützen. Hier gab es nur Bäume, Schnee und einige offene Flächen, welche im Sommer Garten- und Parkanlagen waren, die zum Flanieren einladen sollten. Jetzt lud wahrscheinlich nur Le Tortionnaire dazu ein, sie zu betreten und dort zu sterben.
"Haltet euch an den Bäumen!", gab Stiehle den kurzen Befehl, den er eigentlich hätte gar nicht nennen brauchen. Unter Druck musste man aber deutliche Worte sagen, man wollte sie hören, wenn das Herz bis zum Halse schlug und man seinen Puls sogar im kleinen Zeh spürte. Das war soldatisches Training und die Gewohnheit im notwendigen Moment zu springen, zu handeln statt ausführlich zu reflektieren. Reflektieren war etwas für den Strategietisch, aber nicht für den Feldeinsatz unter Beschuss. Stiehle wusste das, Lütjenburg wusste das. Ins Dickicht gedrückt tasteten sie sich vorsichtig vor. Die Tiefe und Beschaffenheit des Schnees testen, um nicht unglücklich zu stolpern. Stiehle zitterte leicht, als er die Hand an den Revolver legte und deutete an, dass er vorlaufen würde, Carl ihm folgen würde, dann Wittmaack und Kienast zum Schluss.
Der Schnee war alles andere als pudrig. Entweder konnten Stiehle und seine Männer aufgrund der dauernden Kälte nicht mehr die feinen Unterschiede in den Temperaturschwankungen wahrnehmen, sodass der Schnee angetaut und wieder gefroren war, oder es war eben sehr feuchter Schnee, der die ganze Zeit gefallen war. Jetzt, da es beinahe sternenklar war, fror es wieder und die Schneedecke verharschte. Die leichte Kruste brach sich unter jedem Schritt und ließ den Schnee noch stärker knirschen. Stiehle hielt immer wieder inne, obwohl er wusste, dass einem die eigenen Schritte immer lauter vorkamen als sie von außen zu hören waren. Er atmete durch und beruhigte sich dadurch, dass er auf Carls Frage im Flüsterton antwortete.
"Sie fragten, wann es mit den Bundestruppen losgehen könnte? Ich denke, dass die ersten Truppen zu Beginn des neuen Jahres für einen Einsatz bereit wären. Ja, Teile sind es schon. Sie sind in Bereitschaft, aber noch nicht auf dem Weg, falls der Herzog mit sich reden ließe. Von unserer Antwort hängt dies auch ein wenig ab. Je nachdem, ob wir hier wegkommen oder nicht, können sie also noch diesen Monat in Einsatz gehen." Die Frage nach der Gründen der Ehrlosigkeit beantwortete der Major nicht mehr, aber er ging auch nicht weiter auf seine Gedanken ein, diesen Ort zu verlassen. Stattdessen nickte er Carl nur zu, bereit diese Männer zu warnen, wie der Leutnant dies vorsah. Vorsichtig tastete er sich vor und wurde dann langsam schneller als er sich an den harschen Schnee gewöhnt hatte. Schnell und behände arbeitete sich die Gruppe in die Richtung der Kutsche vor.
Die falschen preußischen Soldaten hatten sich derweil wieder umgezogen und waren im Inbegriff das Gutshaus zu betreten. Mommsen setzte seine Brille wieder auf und zeigte eine fröstelnde Geste.
"Ja, wir sollten in der Tat in ein warmes Heim gehen. Aber eigentlich schade um die falsche preußische Uniform. Ich verstehe schon, dass der Preuß' mit seiner Uniform hat. Wenn sie jetzt noch für mich geschneidert gewesen wäre, wie Offiziersuniformen es ja stets sind, hätte ich mich darin fast so breit wie Gustav Karsten gewähnt." Obwohl Mommsen keine Miene in Richtung Freundlichkeit verzog, schien er dies mit dem stoischen Humor seiner nordfriesischen Heimat versehen zu haben, da er ein sonderbares Grummeln von sich gab, welches sich fast als Lachen identifizieren ließ. Die Anspannung war also auch bei dem Historiker groß. Er nickte Samuel ob dessen Bemerkung nur zu, und schien die Erkenntnis zu teilen, sich erst einmal dezent zu geben.
Mommsen und Emil Nobel waren schon auf den ersten Stufen zur Tür, Conrad hatte gerade die Kutschentür geschlossen, als Alfred noch einen Blick in die Richtung des Zeltes warf. Schwarze Schatten bewegten sich an den Birken und Eichen entlang. Kamen sie in ihre Richtung? Alfred hielt kurz inne, während er im Hintergrund hörte, wie Theodor Mommsen, der stoisch-strenge Mann aus Garding, den stilisierten Türklopfer in Schlegelform nutzte, um formell um Einlass zu bitten. Ein dreimaliges Klopfen, welches Alfred glaubte mit seinem Herzen zu erspüren. Als wäre es im Rhythmus seines aufgeregten Herzens gewesen. Emil blickte kurz zu seinem Bruder. Alfred sah die Sorgen im Gesicht seines kleinen Bruders. Würden sie hier wirklich Amnestie erfahren? Würde diese Erpressungssache endlich ein Ende finden und die beiden Nobels könnten sich wieder ihren Leben und ihren Ideen widmen, und ihre ganze Familie aus der Schusslinie habgieriger Söldner bringen? Emil war seine Sorge anzusehen. Er drehte seinen Kopf zu Tür und wartete. Alfred blickte zurück zu den Schatten, aber sie waren verschwunden.
"Jetzt!", gab Stiehle die Weisung aus und geduckt liefen sie so schnell sie konnten aus dem Schutz der kahlen Büsche und entblätterten Bäume in den pfeifenden Wind. Zwei Strecken hatten sie zu überwinden. Einmal eine Strecke von etwa sechzig Meter bis zu einem der Hauswirtschaftsgebäude des Gutes und dann noch einmal einhundert Meter über ganz offene Fläche bis zur Kutsche. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Carl sah, dass die Gruppe um Conrad Rosenstock, seinen Kommilitonen
[2], schon in das Gutshaus aufbrechen wollten. Jetzt hieß es die Beine in die Hand nehmen. Carl sah, dass Alfred, der unter einem Laterne stand und schwach ausgeleuchtet wurde, in ihre Richtung schaute. Carl nahm er wohl nur als Schatten wahr. Jedes Handzeichen war verschwendet und über den Platz rufen war töricht, wenn tatsächlich eine Gefahr bestand. Alfred drehte sich kurz um, sie sprinteten los und erreichten wenige Sekunden später bereits das Hauswirtschaftsgebäude. Stiehle atmete schwer von der Anstregung, aber die anderen auch. Für einen Diener der Bürokratie war er recht fit. Den Schweiß von der Stirn wischend lugte er um die Ecke. Ein sehr schmaler Mann mit langen Haaren klopfte bereits an der Tür.
"Doppeltes Tempo!" Kienast stöhnte, sagte aber nichts. Stiehle sprintete los.
Mommsen klopfte nochmal an die Tür. Wieder eine Dreierreihe. Alfred spürte es wieder in seinem ganzen Körper. Die Schatten mussten irgendwo in der Nacht verschwunden sein, im Mondlicht unter einer erleuchteten Laterne, ließ sich nicht so viel der Umwelt wahrnehmen. Es war Zeit, dass sie zu den Verhandlungen kamen. Alle hatten sich jetzt bei der Tür gesammelt.
Der Vorplatz war unter Schnee verborgenes flaches Gras, von Stiehle wusste wie ein typischer Park aufgebaut ist. Jetzt konnte er die schweren Lederstiefel tief in den Boden stemmen und seine ganze Beinmuskulatur nutzen, um schnell über den Platz zu laufen. Sie mussten die Kutsche erreichen und dann konnten sie mit den Männer sprechen. Stiehle flog geradezu durch den verharschten Schnee, die Gefahr des Ausrutschens missachtend. Von Lütjenburg, Wittmaack und Kienast folgenden kurz darauf. Sie hatten es fast geschafft.
Ein dumpfes Geräusch in der Ferne
[3]. Irgendwas Klopfendes, Schlagendes, was an das Geräusch erinnerte, welches ein Ledergürtel machte, wenn ein strenger Vater die Züchtigung seines Balges ankündigte. Irgendetwas fiel. Alfred Nobel, Samuel Weißdorn und Conrad Rosenstock drehten sich um, sie sahen, dass vier Männer auf sie zugerannt kamen. Sie waren in der Mitte des Hofes. Keine fünfzig Meter entfernt. Einer von ihnen lief jetzt außer Reihe, wurde abrupt langsamer. Hielt er sich den Hals? Vor einer Laterne kam er ins Stolpern, Blut lief aus dem, was sein Hals mal gewesen war. Er bewegte den Mund, als wollte er etwas rufen oder sagen. Dann brach er zusammen. Die drei Männer davor rannten einfach weiter, wie von einer Hornisse gestochen. Wieder dieses Geräusch. Der letzte der drei Männer brach im Laufen zusammen und rutsche im Schnee noch einen Meter nach vorne, dort blieb er reglos liegen.
"RUNTER!", brüllte Stiehle jetzt, nahe der Kutsche und warf sich zu Boden und rollte sich unter die Kutsche.
"VERDAMMT, RUNTER!"Mommsen wurde bleich. Er sah, dass der dritte Mann, ohne zu wissen, dass er Wittmaack hieß, röchelte, hustete, zitterte, schwächer werdend. Er sah den anderen Mann mit offenen Hals an der Laterne lehnen. Mommsen erbrach sich über das Treppengeländer. Emil prügelte jetzt an den Türklopfer, versuchte wie wild die Tür zu öffnen. Doch sie war verschlossen. Er klopfte noch heftiger.
"ÖFFNEN SIE! ÖFFNEN SIE! HILFE! ÖFFNEN SIE!"Le Tortionnaire war zurück.