10. Jantus 1214 - Ein langer Sonnenuntergang - 17:05 Uhr
Dämmerlicht fiel durch die kahlen Äste abseits des schnurgeraden Weges und tauchte die ganze Szenerie in ein orangenes Zwielicht, welches diesen kahlen, kalten und verwaist wirkenden Wald nicht gerade pittoresk aussehen ließ. Der Alb hatte im leichten Schneetreiben und allgegenwärtigen Schneematsch nur ein bescheidenes Marschtempo und hatte aufgrund seiner Gefangenschaft jede Menge Energie gelassen, doch gleichzeitig war klar, dass der Alb zu stolz war, auch nur ein Wort über seine Mühe zu verlieren. Die Untoten hatten jedoch noch Erinnerungen an das Gefühl körperlicher Erschöpfung, einen dumpfen Nachklang der Gefühle des Frierens und der brennenden Muskeln. Dort, wo der Schneematsch unter dem Schnee knietiefe Pfützen oder verdeckte, knorrige Baumwurzeln von alten und eisenharten Eichen und Hainbuchen
[1] verbarg, hatten auch die Untoten mit ihrem Halt zu kämpfen. Der Alb, der sich ansonsten blindlings durch den umbarmherzig verzweigten Wald bewegte, hatte kaum Gefühl in seinen frierenden Füßen und schloss sich dem Stolpern an. Sodass selbst die Untoten sich unbeholfen durch den Wald kriechen sahen. Es war noch ein langer Weg, wirklich vertraut mit diesem neuen Unleben zu sein. Das Leben und ihr Inbegriff, die Natur, verdeutlichte mit hölzerner Tücke ihren Anspruch. Zumindest würde ein Elb es so ausdrücken, wie Alvanon dies vor Nicos bereits getan hatte und dem Alben, auch wenn der sich in Ignoranz üben wollte, sicher einfach nur die Worte aus dem Mund genommen hatte.
Der Schnee wurde zunehmend weniger auf dem Boden und wich einem verwaschenen, mit Laub übersäten Humus, der sich an vielen Stellen als aufgequollener und knietiefer Matsch entpuppte, sodass die untoten Könige mehrmals den aufgrund seiner Rüstung sehr schweren Clavius aus dem Morast helfen mussten. Trotz seiner Müdigkeit gelang es dem Alben jedoch aufmerksam zu bleiben und immerhin den halb unter Schneematsch verdeckten oder uneinsehbaren, kleinen Kesselmooren
[2], die oftmals nicht größer als ein Teich waren, auszuweichen. Die gestürzten Könige konnten sich lebhaft vorstellen, wie die mitten durch den Wald fliehende Tutari unversehens in eines dieser unscheinbare Moore trat und vielleicht nun eine Ewigkeit festgesetzt in der Natur verbrachte. Das wäre eine besondere Ironie des Schicksal und träfe sicherlich des Alben Bezeichnung der Todlosigkeit, welche eine Strafe wurde. Die Barriere schien den Wald darunter ein wenig zu wärmen und die Schmelze des Schnees zu beschleunigen, da die Wanderer hier und da auch kleine Bäche sahen, welche zu Sturzbächen wurden und eine Au, welche schon ein ganzes Stück über die Ufer getreten war. Auch ein Sturz in die schnell fließende Au mochte für einen Untoten unglücklich sein, da keiner so recht wusste, wo sie hinfließen mochte, sodass sowohl der Alb als auch die untoten Monarchen sich von den Ufern von Bächen und Auen fernhielten, so es sich bewerkstelligen ließ.
Sie waren vielleicht fünf Stunden gewandert, da öffnete sich der Wald ein wenig und gab einen matschigen Trampelpfad frei. Die Hainbuchen wirkten hier besonders karg und steinern, ihre Rinden waren grau gefärbt, als sein sie schon lange petrifiziert gewesen. Môr, der nun nicht mehr silberhaarige Alb, deutete den Weg entlang auf eine schmucklose Hütte, die im Schutze einiger Bäume lag, auf die das Licht der untergehenden Sonne fiel.
"Das ist mein Haus. Mag es euch eine wohlige Residenz sein, während ich den Weiler auf euch vorbereite." Seine Stimme war etwas gepresst und zeugte von der enormen Anstrengung, die ihm der Marsch bereitete. Unter besseren Umständen und mit ausreichender Kenntnis der Umgebung, mochte man die Entfernung zwischen dem improvisierten Weiler der Söldner und diesem Haus in weniger als drei Stunden zurücklegen. Das Gras zeigte sich hier vom Laub befreit, vielleicht trugen die Bäume an diesem Haus schon seit Jahren kein Blatt mehr und waren so tot, wie sie aussahen. Der Alb geleitete sie zwischen den steinernen Hainbuchen entlang, wobei man ohne den störenden Schnee die kräftigen Wurzeln leicht übersteigen konnte und hielt auf das Haus zu.
Es war von ähnlicher Bauart, wie auch die Häuser der Söldner und ließ Zweifel an dem Gedanken gären, dass Menschen diese Häuser gebaut hatten. Doch sollten die Alben solche profanen und simplen Bauten bauen, wie Menschen es auch taten? Schwärmte man nicht von den pompösen Palästen der Elben in der Nähe von Wasserfällen, in und an großen Bäumen oder sonstwie von der Natur inszeniert? Pflegten die Alben diese Tradition nicht mehr? Irgendwo in der Ferne zwischen den Bäumen, vielleicht vierhundert Meter entfernt, tauchten noch mehr dieser einfachen Holzhäuser auf, die weder Schmuck noch Verzierungen kannten und einstmals sicher besser in Schuss gewesen waren. Der improvisierte Weiler mochte vielleicht eine albische Kleinsiedlung gewesen sein, welche die Söldner im Aufbau überfielen oder sie war eine Wüstung, eine brache Sieldung, welche die Söldner einfach einnahmen. Wer wusste das schon? Die Alben waren berühmt für ihr Leben in den Schatten, vielleicht waren diese unscheinbaren, aus der Entfernung nur schwer im tiefen Wald ausmachbaren Hütten absichtlich ihre Behausungen. Mephala und Alvanon kannten jedoch auch die Geschichten, dass manche Familien der Brudermörder im Namen Imbrâsîls
[3] schworen, auf jeden Luxus und jede unnötige Kunst - das Zeichen höchster Dekadenz - zu verzichten, solange sie die Unsterblichkeit nicht wiedererlangt hatten.
Môr Tahâs öffnete die Tür und ließ die untoten Könige eintreten in ein mehr als einfaches Haus. Eine Feuerstelle in der Mitte des Hauses, auf Stein gebettet, glühte um mehr Feuerholz bettelnd vor sich hin, während ein noch junger Alb mit einem Zweig und kleinen Scheiten versuchte, wieder das Feuer zu schüren. Der Junge hatte pechschwarzes Haar und bernsteinfarbene Augen und war gesichtlich dem ehemaligen Hüter vergleichbar, wahrscheinlich war der Junge, der vielleicht mit einem sechsjährigen Menschenkind zu vergleichen war, der Sohn des Alben, der sie begleitete. Erschreckt blickte er auf und zog sich, ohne ein Wort zu sagen, auf sein Bett zurück und blickte die eintretenden Wesen mit großen Augen an. Môr Tahâs blickte den Jungen gleichgültig an, während dieser seinen Vater musterte, als würde er einen fremden Mann sehen, ohne die silbernen Haare und die Tätowierungen. Der Sohn bewegte die Lippen, aber keine Worte kamen hervor.
Ein einfacher, schmuckloser, rechteckiger Tisch stand an einer Wand und drei Stühle gaben Platz zum Sitzen, wobei auf einem Stuhl eine dicke Schicht Staub lag und lange nicht benutzt wurde. Zwei Betten waren an den Längsseiten nahe der Feuerstelle, um nicht in der Nacht zu frieren. Auf der Westseite des Hauses standen mehrere Lagertruhen, die abgeschlossen waren und wahrscheinlich Kleidung und Proviant bereithielten. Der Hüter schien ein sehr armes Leben zu führen, auch wenn er Drachenschuppen an den Beinen trug.
"Macht es euch bequem. Ich bin in zwanzig Minuten wieder da. Dann komme ich mit Fragen und werde auf eure Fragen nochmal ausführlich eingehen, Nicos. Doch lasst euch für die Zeit gesagt sein, dass ich es euch von Herzen gönne, dass eure Macht erloschen scheint." Der Alb lächelte schnippisch und machte eine Handbewegung um seinen kleinen Sohn an seine Seite zu holen, der prompt parierte und seinem Vater hinterhertrottete. Der Alb schloss die Tür hinter sich und ließ die Monarchen alleine, in dieser kargen, fast schon schäbigen Hütte, während die kleinen Holzscheite endlich das Feuer annahmen und den Raum in den orangen Schein des Feuers tauchten, fast wie die Barriere außerhalb des Hauses. Aus dem einzigen Fenster, den das Haus hatte, konnten sie dem Alben und seinem Sohn hinterherblicken, wie sie in Seelenruhe auf die anderen Hütten zusteuerten und sich dabei unterhielten. Der Sohn hatte scheinbar Fragen. Môr Tahâs blickte sich nicht um, wahrscheinlich ging er nicht davon aus, dass die Monarchen auf die Flucht gehen würden. Und so standen sie nun, fünf untote Monarchen um ein kleines Feuer mitten in einer Hütte inmitten eines Waldes, den sie nicht wirklich kannten, in einer Situation, die kaum zu durchblicken war. Der Patron der Unwissenheit - Menthir
[4] - schüttelte sich bestimmt vor Wonne...