Wolfhards Tod und Shiver Schweigen standen in einer Korrelation. Daran gab es keinen Zweifel. In dem schicksalshaften Moment, in dem Wolfhards Bauchgewebe riss wie altes Papier und der Golem sich ungerührt, wie eine Maschine eben war, umgedreht hatte, war in Shiver etwas erloschen, was auf dieser Reise außerordentlich wichtig gewesen war und ihm immer eine Motivation gewesen war, aufmerksam zu bleiben.
Dieser pseudoprofessionelle Gestus, den Wolfhard immer an den Tag legte, störte Shiver nicht nur. Es ließ ihn immer wieder erwarten, dass Wolfhard ihm in den Rücken fiel, dass er sie in eine Falle laufen ließ und sie mausetot zurückließ, um sich selbst ein Maximum an Gewinn abzuschöpfen. So schätzte er die gespielte Professionalität Wolfhards ein. Doch sein Tod hatte einiges geändert. Wolfhard hatte sie tatsächlich nicht in eine Falle gelockt. Shiver hatte seine Ansage vom Dampfer bereits ein zweites Mal nicht einhalten können. Darüber half ihm auch nicht weg, dass Wolfhard sich als wenig professionell herausstellte. Wenn er sich so gut einschätzen konnte, hätte er auch seine Kampfkraft einschätzen können. Er wurde jedoch zu mutig. Das Problem vieler Möchtegernhelden. Sie wurden zu mutig. Aber wahrscheinlich waren sie alle Möchtegernhelden. Maguerite, dessen Nähe, die er aus Armeslänge Entfernung zu schätzen wusste, jetzt jedoch drängend, erschöpfend, erdrückend fand, bewies es nur zu gut. Sie alle erlebten mehr als sie erwartet hatten, einschließlich Shiver.
Nicht, dass ihm der Anblick der Zerschnittenen etwas ausmachte. Er hatte durchaus einige Männer in den Celgasminen in die Tiefe stürzen sehen und sie dann bergen müssen, mit ihren verdrehten und zerschmetterten Gliedern. Tod war immer gleich furchtbar. Ob ein alter Mann in seinem Sessel einschlief oder jemandes Kopf in die Laufsäge eines Sägewerkes gehalten wurde, das eine hatte mehr Blut als das andere: aber wer beides erlebt hatte, behielt beides mulmig im Hinterkopf; die kreativen Geister erwarteten bei dem Sägetod nur mehr Schmerzen. Der Tod war also nicht das Schockierende, allein der Schmerz machte den Menschen Angst, deswegen wirkte eine Hinrichtung durch Zersägen
[1] beispielsweise besonders furchterregend. Tod war nicht zu empfinden, Schmerzen schon.
Shiver blickte auf die schwer atmenden, so furchtbar gequälten Menschen. Er hatte andere Sorgen. Die Perle war die Sorge. Sie war schön, sie war begehrenswert, sie war ihm zu nah und er wünschte sich Alkohol, viel Alkohol, um darüber wegzukommen, dass sie ihm nun so nahe stand. So nah und doch so fern. Das war viel unerträglicher als die am schlimmsten zugerichtete Leiche. Das war nämlich der bittere Sarkasmus des Lebens. Shiver war nicht mehr als eine momentane Notwendigkeit.
Der Glatzkopf ließ Maguerite in seiner Nähe, er konnte es sowieso nicht verhindern, doch er drehte sich eine Zigarette und steckte sie sich an, während er dazu einen Heiltrank mit seinem bittergalligen Geschmack runterspülte. Mit dem Qualm der Zigarette ließ es sich ertragen
[2]. Mit der rechten Hand wischte er Blut von seiner Stirn. Es war Wolfhards Blut. Er wischte es an seinem alten Ledermantel ab und rümpfte die Nase. Der typische Geruch des Blutes.
Er musste irgendwas tun, um zu zeigen, dass er noch dabei war.
"Wir sollt'n ihn'n den Gnad'nstoß geb'n.", sinnierte er dann nur kurz. Aber immerhin die ersten Worte seit einer Weile. Er zog er wieder tief an der Zigarette und lief den Qualm durch die Nase entweichen.
"Gnad'nstoß.", wiederholte er lakonisch, als wäre es eine Entscheidung.
Shiver wusste zwar nicht, wofür diese Maschinerie war, aber er hatte eine ganz grobe Vermutung.
"Hab das Gefühl, dass s'e die Elend'n nutz'n wie wir Kohl'n für uns're Dampfmaschin'n. Wir sollt'ns zumindest ausmach'n, Schläuche kapp'n, heil'n oder eb'n Gnad'nstoß."