Will nahm den Zettel schweigend entgegen und wendete ihn ein paar Mal hin und her, als wisse er nicht so recht, was er da vor sich hatte, dabei erkannte er es sofort. Bens Pamphlet! Es musste ihm herausgeflattert sein, als er das Stück Pergament für Lucas Karte entnommen hatte.
Ob Ben noch lebt? Ich hoffe ja. Dann treffe ich ihn vielleicht in Reststadt und kann ihm endlich sagen, was für ein elender Feigling... Nein, eigentlich war das hier ja mal ausgesprochen mutig von ihm gewesen. Auf den Kopf zugesagt hat er's der Obrigkeit, dass sie ein falsches Spiel getrieben haben! Das liest zumindest jeder deutlich zwischen den Zeilen, der seine Schreibe ein wenig kennt. Sonst hätte ich das Teil ja niemals verwahrt. Sonst hätte Rosalind es mir niemals all die Jahre verwahrt. Ob Rosalind noch lebt?
Will räusperte sich verlegen und verstaute dann erst einmal den Zettel sorgfältig in Angelos Schreibmappe, welche er in seinen Gürtel geklemmt trug. Doch auch nach dieser Verzögerungstaktik wusste er noch immer nicht, was er dazu sagen sollte.
Wenigstens hat Arjen nicht gefragt, ob ich's getan hab'. Vielleicht ist's ihm einfach egal. Es ist ja eh alles egal jetzt. Es tut ihm leid! Ha, was bitteschön soll der Quatsch denn heißen? Genau das hat Heiler Khoon auch gesagt. Die ganze Welt ist am Arsch und ihnen tut leid, was einem lumpigen Schauspieler vor vier Jahren zugestoßen ist, teilweise durch seine eigene Schuld? Leid! Allen tut es leid! Heute. Vor vier Jahren hat es keinem leid getan, am allerwenigsten der, die am meisten Grund dazu gehabt hätte. Und der tut es auch heute noch nicht leid. Wie konnte sie nur? Das frage ich mich noch mehr, seit sie mir neulich über den Weg gelaufen ist. Wie kann ein Mensch so grausam sein? Dazu jemand, der so wohlbehütet aufgewachsen ist wie Viola, die auf den ersten Blick so gar keinen Grund hat, mit dem Schicksal zu hadern, die von ihm Gaben im Überfluss erhalten hat: schön, reich, intelligent, leidenschaftlich, musikalisch, die unglaublichste Stimme, die ich je gehört habe, so hell, klar und rein... und doch war ihr Herz schwarz und ihre Worte Galle. Ob sie noch lebt? Mein Sohn?
So lange hatte Arjen Will noch nie dastehen und schweigen sehen. Als Will dies bewusst wurde, räusperte er sich abermals, holte tief Luft—und fand noch immer keine Worte.
Und dabei hätte es auch einen anderen Ausweg gegeben! Ich hätte schon an der richtigen Stelle laut 'Ja!' gesagt, wenn man mir das Messer auf die Brust gesetzt hätte. An meiner Seite wäre sie jedenfalls glücklicher geworden als an der von Inquisitor Henslow! Ja, es wäre ihre Chance gewesen, sich endlich loszureißen aus Verhältnissen, die viel zu eng für sie waren. Aber nein, sie ist eine Alberti! Eine Alberti heiratet keinen Schauspieler.
"Ich habe mich lange gefragt, wie sie mir das hat antun können." Will sah Arjen bei diesen Worten nicht an, blickte vielmehr an ihm vorbei über die Dächer der Stadt. "Wir hätten ja bloß heiraten brauchen. Ich sage 'bloß'—in ihren Kreisen hätte das einen herrlichen kleinen Skandal gegeben. Aber bringt man deshalb einen Mann qualvoll um? Zehn Jahre hätten's eigentlich werden sollen. In den Minen! Wer überlebt das schon?"
Das alles wollte Arjen vielleicht gar nicht hören, er hatte ja nicht gefragt. Andererseits hatte er etwas mit ihm "besprechen" wollen. Dazu gehörte ja wohl auch das Sprechen, selbst bei einem derart wortkargen Mann wie Arjen. Er war eben nur zu taktvoll, um direktheraus zu fragen.
"Ein wenig war ich natürlich selbst schuld", fuhr Will also fort. "Ich war unglaublich dumm, wohl auch ein wenig arrogant, zu meinen, ich könnt ungestraft die schönsten Blumen in den Gärten der Bürger pflücken, wenn sie mich so gar verlockend anstrahlten. Und Viola war nicht nur schön, sie konnte singen, dass einem das Herz schmolz. Und schauspielern, das konnte sie sogar besser als ich. Wenn man sie nach der Geburt nur auch in einem Theater ausgesetzt hätte wie mich, sie wäre eine der ganz Großen geworden und vielleicht ein guter Mensch. Wenn soviel Leidenschaft und Talent ein ganzes Leben lang unterdrückt werden, welkt die Seele und alles Mitgefühl vertrocknet."
Hätte sie nur ein wenig mehr Mut gehabt, wären die letzten Jahre für sie und für mich glücklicher verlaufen. Was für Stücke ich in den Jahren noch hätte schreiben können!
"Jedenfalls erklär' ich mir das so. Aber jetzt ist eh alles hin, also was soll's. Komm, lass uns das Gebäude noch ein wenig weiter erkunden. So müde ich bin, meine Beine wollen nicht stillhalten."
Will wandte sich zum Gehen, dann hielt er noch einmal inne.
"Wie hießen sie eigentlich? Deine Frau und dein Sohn?"
Auch er würde nicht direktheraus fragen. Wenn Arjen etwas hatte, das er sich von der Seele laden wollte, so bot Will ihm hiermit die Gelegenheit dazu; hielt der Kamerad seinen Schmerz aber lieber darinnen verschlossen, so reichten zwei Namen zur Antwort.