Protokoll 88 - 15 / Argylle; Mechanika.
"RUHE! Meine Herren, ich bitte um sofortige RUHE!"Der Hammer des Obersten Richters hämmerte so stark auf das kleine Holzpodest, dass die heftige, ruckartige Bewegung seine schneeweiße Justizperücke verrückte. Nur durch diesen leidenschaftlichen Elan und der magisch verstärkten Stimme schaffte der alte Mann es, sich in dem wütendenden Mob aus Senatoren, Bezirksbürgermeistern und Stadtsoberhäuptern endlich Gehör zu verschaffen. Szenen spielten sich hier, im höchsten Gerichtshof Argylles, vor seinen Weisheits-gegerbten Augen ab, welche er sonst nur ein einziges Mal in seiner Karriere als Amtsvorsitzender erlebt hatte. Damals, '48, als er in jungen Jahren alle vierhundertundneunundneunzig Mitglieder der Bowerstone Basterds verurteilen musste.
Doch an diesem Tag, genauer gesagt am 23. Tage im zweiten Vikentori, war der marmorene Saal nicht mit Banditen, Halsabschneidern und Mördern gefüllt. Wobei er resignierend feststellten musste, dass sich die Obrigkeit Mechanikas in ihrer gesamten, aufgeschäumten Wut nicht sonderlich von dem damaligen Pack unterschied.
"Meine Herren! Ich bitte sie, bewahren sie ihre Würde! Lasst Senatorin Ornstein ihren Augenzeugen nennen! Ich warne sie, der Nächste, der unaufgerufen das Wort in den Raum wirft wird das Wochenende in Flintstone[1] schmoren!" Seine pergamentartigen, vom Alter gefleckten Wangen erröteten vor Zorn. Er ließ sich einen Augenblick Zeit, seine Fassung wiederzufinden, bevor er die gewohnt eiserne, nicht unfreundliche Miene an den Tag legte und sich erneut an die Frau in Uniform wandte, welche auf dem Debattierpodest in der Mitte des riesigen, runden Forumsaals stand.
"Beatrice - bitte fahren sie nun fort."Die Senatorin regte keinen einzigen Muskel ihrer ernsten Mimik, drehte sich leicht in die Runde und hob dabei ihren Debattierstab. Von einem lautlosen Leuchten am Ende des Stockes begleitet, verstärkte, die dem Gerät innewohnende Energie, die Akustik ihrer Stimme, wodurch jene laut und deutlich, bis in den hintersten Winkel des Saals hallte.
"Hohes Gericht, ich rufe Billybob Bubbleburn als Augenzeugen auf, Besitzer eines Schnellimbisses auf Kromdale Ebene Null-Vier!"
Unendlich nervös; sein einziges, stattliches Kragenhemd bis zur Gänze durchgeschwitzt zitterte der Grillmeister Billybob am gesamten Körper, als duzende, für ihn unendlich erreichbar-wichtige Augenpaare auf ihn herunter starrten, deren Besitzer er wenn überhaupt nur aus Zeitungen und Reklameblättern kannte. Auf die Frage des Obersten Richters antwortete er schließlich, wenn auch äußerst zögerlich mit einem viel zu leisen:
"Ähh was?""Ich sagte - Senatorin Beatrice Ornsteins Informanten bei den Downtown Gentlemen berichteten, sie wären in ihrer Dienststelle eingetroffen und hätten gemeint, sie sollen gesehen haben, wie zwei Kobolde vor ihren Augen auf magische Art und Weise verschwanden? Ist das wahr? Wenn ja - Können sie dies in dem hier anwesenden Kreise wiederholen?"Ängstlich fasste Billybob seinen flachen Hut mit beiden Händen an der Krempe und drehte ihn dabei auf Höhe seines Bauches langsam, zittrig um die eigene Achse.
"Also... Also das war so... Werte Herren und ehh... Damen. Da kamen zwei so Kerlchen, wissen se, so klene Steppkes, Koubolde waren did, und habn so viel bestellt, wie ich in meinem janzn Lebn noch nich' an einen Kundn verkooft hab! Der eine mitm Hut hat so viel jegessn, da wär sogar mein alter Onkel Kurt jeplatzt!"Von der unrühmlichen Kromdaler Gossenart angewidert, unterbrach Senatorin Ornstein den Grillmeister an dieser Stelle.
"Bitte, Mister Bubbleburn. Beschränken sie sich auf das Wesentliche. Kurz und prägnant."Wenige Meter weiter begann Senator Greedy damit, unter vorgehaltener Hand verächtlich zu lachen, was Ornstein nahezu zeitgleich mit dem Obersten Richter mit einem scharfen, verärgerten Blick straften.
"Najut. Also, ich sachs euch! Da woar plötzlich son Haufn Rabn üwa all und der eine is druff zujegangen! Und hat mit der Zunge jeschnalzt, als würd der mit denen redn!" Ein Raunen durchfuhr die Menge. Leise, ohne die Verstärkung des Debattierstockes rief jemand:
'Schattenfreund!'. Eine andere Stimme meldete sich mit einem furchteinflössenden:
'Raben! Die Spione des Drübens! Ich habe sie gesehen!'Der Oberste Richter hämmerte mit voller Kraft erneut auf das Podest, um den Saal sofort zur Ruhe zu bewegen, noch bevor die Situation wieder eskalieren konnte und um die nächste, hitzige Diskussion im Keim zu ersticken. Die Menge beruhigte sich tatsächlich, wodurch das leise Murmeln rasch versiegte und eine betretene Stille an jene Stelle trat. Eingeschüchtert von der Autorität; ergriff Billybob schließlich wieder das Wort, um seine Ausführung so schnell wie möglich zu beenden. Niemals in seinem Leben wünschte er sich so sehr weg von einem Ort wie in diesem Augenblick!
"Un' plötzlich, ich sachs immer wieda, is der auf der Stelle verschwundn! Ein Leuchtn hats jegegeben! Schall und Rauch und wech! Verschluckt wurde der von der Luft; bis nix mehr übrig war! Da... Da is der andere durchjedreht! Der hat ne riesiche Kanoune genommn und... Und mit Rattn, also so riesign Nagern in die Luft jeschossn! Dabei hatter geschrien! Geschrien wie am Spieß! Und nuja, dann kam wieda did Leuchtn und wech warer. Verschluckt! Da sin' die Vögl abjedampft. Ham ne Fliege gemacht. So war did!"Die gesamten Anwesenden starrten auf den Grillmeister herab. Keiner wagte es, die wahnsinnigen Ausführungen des Grillmeisters zu kommentieren, aus Angst vor dem Rechtsspruch der Obrigkeit. Beatrice Ornstein seufzte plötzlich hörbar auf und fasste sich mit der Handschuh-bewehrten Linken an die Stirn. Senator Greedy stand auf und richtete sich an das verdutzte Publikum.
"Was für ein alberner Quatsch von diesem, diesem Kretin! Ornstein, werter Richter! Was in aller Welt soll diese Farce?! Es ist doch offensichtlich, dass dieser Kerl nicht mehr ganz bei Sinnen ist!" Billybob senkte den Blick. Er wünschte sich, das Leuchten würde kommen und ihn ebenfalls hier wegbringen! Greedy drehte sich und deutete mit seinem aktivierten Debattierstock direkt auf jene Senatorin in ihrer Mitte.
"Ich hatte euch gestern Nacht gewarnt und ihr wolltet nicht hören! Der Turm ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten! Nichts als ein Denkmal unserer Vorväter! Das Dunkle Drüben ein Ammenmärchen! Und ihr nutzt diesen Moment auch noch, um euch vor der gesamten Stadt lächerlich zu machen?! Wie weit seit ihr gesunken, Beatrice?" Begleitet von jenen, in Rage gesprochenen Sätzen stimmten über die Hälfte der anwesenden Abgeordneten ein. Die Wenigen, welche auf Seiten der Senatorin standen wetterten heftig dagegen. Die Drohung des Richters ward binnen Sekunden vergessen. Schimpfwörter flogen, gepaart von Schuhen, Stöcken und Fäusten. Der Hammer des Richters donnerte, doch selbst seine magisch verstärkte Kehle ging in dem johlenden Geschrei der Politiker unter. In der Mitte jener chaotischen Szenerie stand Beatrice regungslos und versuchte, ihre nächsten Schritte erneut zu überdenken. Dieser Grillmeister, ob dumm oder nicht. Die Detektoren bestätigten den Wahrheitsgehalt seiner schwammigen Aussagen. Doch alles war zwecklos, wenn der Uhrturm schwieg. Selbst wenn sie nun ein Argument gehabt hätte, wie würde sie sich nur Gehör verschaffen können? Ihre Position in den Reihen der Stadt schwand Minute um Minute. Sie hatte keine Zeit mehr!
Dosk Wormwood war es, welcher sich schlagartig ungeteilte Aufmerksamkeit verschaffen konnte. Der über dreihundert Jahre alte Bürgermeister Tolluchgorums riss seine Robe zurück und zog seinen Magierstab. Von uralten Zauberformeln begleitet schrie er, begleitet von einem Chor aus tausend Geisterstimmen, simultan ein einziges Wort und ließ gleichzeitig den Rest für einen kurzen Augenblick verstummen.
"GENUG!"Der Kraft zu Sprechen geraubt waren die beleidigten Politiker unter Entsetzen dazu gezwungen, dem knorrigen Kobold ihr Gehör zu schenken.
Mit dem Magisterstab deutete er drohend, direkt auf Senator Greedy. Betreten wichen seine umliegenden Berater einige Schritte zurück, wodurch der Mensch seinen Platz gänzlich für sich allein hatte.
"Wagt es nicht, das Dunkle Drüben als Hirngespinst abzustempeln! Ihr habt keine Ahnung, Kurzlebiger! Hört mich an! Denn ICH war damals dabei, als der WOCKY flog!"Mit gefletschten Zähnen ließ das Oberhaupt der Kobolde seinen Blick zwischen jedem einzelnen Politiker, Richter und Senator hin und her wandern.
"Selbst mit jeder einzelnen Synapse eures dreckigen, perversen Gehirns könnt ihr euch nicht einmal annähernd ausmalen, wie es ist, wenn es Blut und brennende Asche vom Himmel regnet! Wenn GANZ MECHANIKA um euch herum lichterloh zerbricht -
und ihr genau wisst, DASS IHR NICHT HINAUS KÖNNT!"Seine Züge verfestigten sich. Er senkte den Stab und blickte hinab, direkt in die Augen der Senatorin Ornstein.
"Heute Nacht wanderten die Raben über der Stadt. Der Uhrturm hat sich geöffnet und sie, Miss Ornstein, haben das getan, was die Eiserne von ihnen verlangte. Ich habe das Ziffernblatt aufleuchten sehen. Sieben Mal. Der Geist der Maschine hat gewählt, auch wenn es euch nicht in eure Wahlkampagne passt, Mister Greedy. Ich sage, wir haben die Pflicht gegenüber der Nation. Wartet ab. Gebt ihnen mehr Zeit! Wo auch immer sie sind... Die Zeichen stehen schlecht. Wir brauchen eine Brigade! Wir haben keine andere Wahl!"Beatrice wusste nicht, was sie sagen sollte. Vor wenigen Sekunden noch raubte die schiere Aussichtslosigkeit der Lage ihr die Stimme; nun war es die gänzlich unerwartete Unterstützung Tolluchgorums! Die Senatorin konnte nichts anderes tun, als obgleich der Ehrfurcht des Augenblicks, den seelendurchdringenden Blick des alten Zauberers stand zu halten. Sie nickte ihm zu. All ihre Hoffnung fokussierte sich nun auf die endgültige Entscheidung des höchsten Gerichtshofes.
Der Oberste Richter biss sich auf die Lippen. Leben hingen nun, wie so viele Male zuvor, von seiner nächsten Reaktion ab. Doch Etwas stimmte nicht. Er spürte das kribbelnde Gewissen, welches sich in seinem Nacken immer wieder meldete. Die Worte des Zauberers hatten wahrlich gesessen. Doch die Gesetze waren eindeutig!
Zögerlich griff er schließlich zu dem Holzhammer, hob diesen auf und schloss die Augen. Laut erschallte die Stimme der Rechtssprechung, als er seinen Entschluss den Vertretern der letzten Bastion vortrug.
"Senatoren; Abgeordnete. Die Gesetze sind eindeutig! Gestern, um 29:10 Uhr wurde das GRIM NORIA aktiviert! Die ungezügelte Kraft des Uhrturms entfesselt! Jetzt, am heutigen Tage, in diesem Moment, um 19:09 Uhr ist dieser Vorgang genau sechsundzwanzig Stunden und eine Minuten her. Die Eiserne befiehlt, solle die Kraft des Artefakts binnen eines Tages Niemanden aus unserem Volke erwählt haben, ist Protokoll Achtundachtzig Strich Fünfzehn auszuführen! Das bedeutet, in genau 10 Stunden und einer Minute tritt dieser Befehl in Kraft.
Wir werden uns genau an diese Angaben richten! Keine Sekunde zu früh oder zu spät!"Er öffnete erneut die Augen und wandte sich an die Senatorin.
"Beatrice, der Chronoskriptor hat zehn Stunden und eine Minute, um die Brigade zu finden. Wir können nicht riskieren, dass die freigelassene Magie sich in unsere Realität frisst! Wir müssen nach dieser Zeit die Verbindung schließen!
Betet zur Eisernen. Denn, wo auch immer die Brigade ist...
Sollte das Ziffernblatt heute um 29:10 Uhr nicht erstrahlen, sprengen wir den Turm."