Barry lauschte den Worten seines Retters nicht ohne ein gewisses Maß an Verwirrung. Vielleicht lag es daran, dass er von „eurer Rasse“ sprach, obwohl er offensichtlich selbst ein Kobold war, oder auch daran, dass er allgemein Gegebenheiten, neue Freunde und den „Meister“ erwähnte, mit denen und mit dem der junge Zylinder in diesem Moment nicht viel anfangen konnte. Allerdings war das einzige, was wirklich zählte, dass das Leben seines Großvaters in Gefahr war und er so schnell wie möglich einschreiten musste. Vielleicht war es besser, seinen Gegenüber unter diesen Umständen für einen Sonderling zu halten (von denen gab es in Mechanika schließlich reichlich), das Gesagte aber nicht zu hinterfragen oder in irgendeiner Form Anstoß daran zu finden.
Mechanika und die Welt brauchte Barry also, soso. Na, genau deswegen hatte er seinen Dienst bei den Gentlemen ja angetreten! Trotz der Anspannung schlich sich ein Lächeln auf das Gesicht des Constables.
„Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf du hinauswillst“, gab er zu. „Aber du warst mir auf jeden Fall eine riesige Hilfe. Ich weiß nicht, wie ich dir das danken soll. Mach’s gut!“, verabschiedete er sich. „Ich hoffe, wir begegnen uns wieder!“
Damit machte Barry sich auf den Weg. Er hatte schon einige Schritte auf die Leiter zugetan, da fiel ihm noch etwas ein: „Wenn dich eine deiner Türen irgendwann ins Frank’n‘Weenies führt, geht deine Zeche auf mich!“
Nach dieser Einladung hatte er jedoch wirklich nur noch ein Ziel vor Augen: Schnell wieder Tageslicht zu sehen. Es war nicht gerade beruhigend gewesen, was Barrys Retter über diesen „Meister“ gesagt hatte… und über das robuste Gewebe von Kobolden wie Opa Bosco.
Entschlossen ergriff Barry die Leitersprossen und tauchte schon bald in den engen Schacht ein, der nach oben führte. Als die Dunkelheit langsam Überhand nahm, aktivierte Barry per Knopfdruck die integrierte Lampe in seinem „Banner“-Selbstverteidigungsgehstock, der zur Standardausrüstung eines jeden Downtown Gentleman im Straßeneinsatz gehörte. Barry hatte diesen vielseitigen Gegenstand inzwischen beinahe so lieb gewonnen wie seinen Lawbringer. Unterhalb den Straßen Kromdales bewies der „Banner“ mal wieder seinen Wert. Er sorgte dafür, dass Barry sah wohin er greifen musste. Seine Füße hingegen fanden wie von selbst Halt. Die Atmosphäre hier war ungemein beengend – und es wurde nicht besser, als die Kanalisation sich immer aufdringlicher durch ihren unverwechselbar widerwärtigen Gestank ankündigte. Beinahe automatisch versuchte der junge Bold, den Geruchssinn auszuschalten und nur durch den Mund zu atmen – was sich allerdings nicht als vollkommen erfolgreich herausstellte. Doch da musste er nun durch. Die abscheuliche Geruchspalette erreichte ihren Höhepunkt (oder Tiefpunkt, je nachdem, wie man es nennen wollte), als Barry schlussendlich das Ende der Leiter erreicht hatte und in den Kanalisationstunnel kletterte, den sein Retter angekündigt hatte.
Auch hier war Barry dankbar für das Licht, das an seinem Handgelenk schien. Auf ein Bad in Exkrementen und Schlimmeren konnte er gut und gern verzichten. Besonders, weil es ihn Zeit kosten würde. Im eiligen Laufschritt brachte der junge Bold Meter um Meter auf dem gemauerten Laufsteg neben der mittig gelegenen Abwasserrinne hinter sich und achtete dabei darauf, nicht auf Unrat oder pelziges, fiependes Ungeziefer zu treten, das mal rechtzeitig, mal weniger rechtzeitig vor ihm die Flucht ergriff. Möglicherweise war es gut für das eigene Seelenheil, Treibgut in der Dreckbrühe geflissentlich zu ignorieren. Es gab Dinge, die man nicht wissen wollte, selbst als pflichtbewusster Downtown Gentleman. An Gerüchte, die man über die Abwasserkanäle der Stadt hörte, mochte Barry lieber auch nicht denken (aber es ließ sich nicht verhindern) – es waren auch mehr urbane Legenden als Gerüchte. Hier lebende, inzwischen erblindete und ausgewachsene Waisen, die sich von dem ernährten, was sie hier finden und fangen konnten; eine riesige Schlange, die in den Abwasserrohren ihr Unwesen trieb und mit giftigen Zähnen wie Degen und gelben Augen, die jeden zu Stein verwandelten, der hineinsah, Stoff für Albträume lieferte. Dann fiel Barry noch eine Schreckensgestalt namens Pennywhistle ein – ein Clown, der angeblich Kinder mit bunten Luftballons zu sich lockte, um sie hier unten zu quälen und dann zu fressen. Nun, das hatte nie bestätigt werden können.
Der junge Bold schrak aus diesen Gedanken, als er gegen etwas Schepperndes trat, das daraufhin mit einem platschenden Plumpsen im unheilvoll-braunen Abwasser von fragwürdiger Konsistenz verschwand.
Nur eine leere Dose ‚Sola light‘, erkannte Barry noch. Komischerweise hatte sich der Hunger, den er gehabt hatte, als er eigentlich nach dem Diensttag schon den Weg Frank’n‘Weenies hatte antreten wollen, nun vollkommen verflüchtigt. Er war sich momentan nicht sicher, ob er überhaupt jemals wieder Hunger haben würde.
Dann entdeckte er sie endlich: Die Leiter, nach der er Ausschau gehalten hatte. Sie glänzte auf eine widerwärtige Weise schmierig im Licht der „Banner“-Lampe. Barrys Retter hatte Recht behalten. Und der Constable wollte keine Zeit mehr verlieren. Sein Opa brauchte Hilfe! Hoffentlich befand sich Bosco tatsächlich noch in der Nähe und man hatte ihm noch nichts angetan! Eilig begann Barry mit diesem zweiten Aufstieg. Durch die Löcher des Kanaldeckels fiel schon in kleinen Kegeln das Licht der Oberfläche auf ihn herab.