Nach einer Weile hob Will den Kopf. "Verzeiht den Ausbruch. Ich wollte nicht... Das mit Eurer Frau, Luca, tut mir leid. Mit Deiner Familie, Arjen. Und ich bin derjenige, der sich anstellt!"
Er setzte sich neben Angelos Bett auf den Boden, schlang die Arme um die angewinkelten Beine und starrte tränenblind vor sich hin. Lucas Worte zur "neuen Ordnung" vermischten sich in seinen Gedanken mit den eigenen.
Wir selbst mögen es immer noch als widernatürlich empfinden, weil wir aus der alten Welt kommen. Doch in der neuen Ordnung, sind die Wiedergänger ein Teil der Welt, sie gehören hierher. In der neuen Ordnung haben die Toten dasselbe Recht wie die Lebenden, durch unsere Straßen zu wandeln...
Was immer die Welt der Toten von der Welt der Lebenden trennte, es schien aufgehoben. Welche Grenzen es auch immer gegeben haben mochte, die die Welt eingegrenzt und geschützt hatten, sie waren eingerissen worden.
Für seinen Nekromant von Eschmerat, aber auch für den Kaufmann, hatte Will damals eifrig die düstersten Aspekte der Magie recherchiert. Woher rief ein Nekromant seine finsteren Mächte? Welch Paraphernalia waren vonnöten, um einen neuen Geist in einen Leichnam zu locken? Und wie verhielt es sich mit Dämonenpakten: welch Dienste konnte man erbeten, was musste im Gegenzug man versprechen? Bald schon wurde er vom Bibliothekar und den Magiern, die er direkt befragte, misstrauisch beäugt und schließlich unter Herbeirufen bewaffneter Wachen beiseite gezogen und nach seinen Absichten befragt.
Seine Antwort hatte keinesfalls all ihre Bedenken zerstreut. 'Diese Dinge sind viel zu ernst und das Wissen darum nicht für das gemeine Volk gedacht!' argumentierten sie. 'Überhaupt, sind Eure Schlachtenspektakel nicht bereits blutrünstig genug? Müsst Ihr auch noch derart abartige, widernatürliche Verbrechen auf der Bühne darstellen allein für den billigen Effekt, für die paar Kupfermünzen mehr, die der Pöbel Euch dafür zahlen wird, weil er es nicht besser weiß, als sich an so etwas zu ergötzen?' Doch Will hatte selbstbewusst erklärt: 'Ginge es mir um billige Effekte, um mehr Geld für meine Arbeit, würde ich ja wohl kaum so viel Zeit auf sorgsame Recherche verschwenden! Und ja, auch solch abartige Dinge müssen wir Dichter ansprechen. Schließlich folgt die Kunst nur den Wegen, die das Leben vorgibt. Alles, was gelebt wird, muss sie treugestalt darstellen dürfen.'
Und so hatte er, bevor man ihm den Zugang auf Lebenszeit verbat, zumindest eines gelernt: so wenig sich die gelehrten Herren Magier auch einig waren, wie man die schützenden Grenzen nennen oder sich vorstellen sollte—ob als Schleier, Astralnebel, Urebene, Weltenmeer oder Seelenall—eines, das zweifelte keiner von ihnen an: es existierten Welten neben dem Diesseits, die mit diesem überlappten, nein, sogar Punkt für Punkt denselben Ort einnahmen, wenn auch nicht dieselbe Dimension—was auch immer das heißen mochte. Eine dieser Welten aber, die mit dem Diesseits auf diese Weise koexistierte—so die Herren Gelehrten einstimmig—war das Totenreich. Und genau diese Grenze musste—wenn man Luca Glauben schenken durfte—durch irgendetwas zerstört worden sein.
"Die Hölle kennt keine Grenzen, noch ist sie beschränkt
Auf einen Ort, denn wo wir sind, da ist sie auch,
Und wo sie ist, müssen wir auf ewig sein."
Prophetische Worte, die er da rezitierte! Ersonnen hatte er sie vor über vier Jahren.
"Wenn ich das Stück geschrieben hätte", sagte er unvermittelt, allerdings erst nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Kinder schliefen, "dann hätte ein hochangesehener, mächtiger Magier im fünften Akt ein schwarzmagisches Ritual gewirkt. Zu welchem Zweck, fragt ihr? War es Rache? Oder wollte er Unsterblichkeit erlangen, indem er alles Leben um sich herum vernichtete und gierig in sich aufsog? Nein. So wie ich mir das denke, verlor er im ersten Akt die geliebte Frau, die Kinder vielleicht auch, und versucht seitdem mit immer verzweifelteren Mitteln sie wiederzuerwecken, bis es ihm am Ende—nachdem er die eigene Seele zum Tausch geboten hat—mithilfe eines Dämons dann gelingt, doch nicht im mindesten so, wie er es sich vorgestellt hat! Nicht nur die Lieben holt er zurück, sondern alle Seelen, nicht in gesunde Leiber fahren sie ein, sondern erheben sich aus ihren Krypten und Gräbern. Um die seinen zurückzuholen, hat der Mann—von infernalen Geistern geleitet!—die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Totenreich zerstört. Warum hätte ich das so geschrieben? Denke ich etwa, dass Liebe an allem Übel dieser Welt schuld sei? Nein, nicht die Liebe. Alles Übel dieser Welt geschieht, weil Menschen zu sehr nach etwas gieren, das ihnen weder gehört noch zusteht. Dieses Verlangen, dieser Hunger, den wir alle in uns spüren, der durch nichts gestillt werden kann als durch Erfüllung oder unser eigen Untergang."
Er wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht und wandte sich an Luca. "Ich würde gerne erst einmal hier bleiben und Euch helfen, Eure Töchter zu beschützen. In der Hoffnung, dass irgendwo da draußen jemand dasselbe für Lissie und die meinen tut."