Nach einer ereignislosen und erholsamen Nacht hatte am nächsten Morgen auch Ulf gute Nachrichten für die Karawane: "Während ihr gefrühstückt habt, bin ich auf den Hügel dort drüben gestiegen. Von dort oben ist es leichter, sich zu orientieren, und ich denke, ich weiß nun wieder, wo wir uns befinden. Wir sind gar nicht weit vom eigentlichen Weg abgekommen, und wenn kein weiterer Sturm dazwischenkommt, sollten wir heute abend noch an einer festen Siedlung ankommen, wo wir Vorräte aufnehmen und vielleicht sogar etwas Handel betreiben können."
Tatsächlich schienen ihnen die Götter in den folgenden Wochen wohlgesonnen zu sein, denn die Reise entlang des Taraska verlief bei gutem Wetter weitgehend reibungslos, von dem einen oder anderen unbedeutenden Zwischenfall abgesehen. Die Karawane querte den Fluss an einer breiten Furt und hielt sich von dort ab an dessen Nordufer. Inzwischen hatte sich auch Ulfs Versprechen bewahrheitet, dass sie hier häufiger auf Siedlungen treffen würden, denn beinahe jeden zweiten Tag trafen sie wenigstens auf ein Nomadenlager und die Leute waren allesamt freundlich und freuten sich augenscheinlich, auf Reisende zu treffen - häufig wurden sie zu einem Mahl eingeladen und tatsächlich begann die eine oder der andere, trotz der Reisestrapazen so etwas wie einen Bauchansatz zu entwickeln.
Drei Wochen reisten sie auf diese Weise seit ihrer Begegnung mit dem Hexenfeuer, bis Ulf ihnen eines Morgens eröffnete, dass sie nun den Fluss verlassen würden.
"Das hohe Eis ist nahe." begann er. "Von hier aus wenden wir uns nach Norden in Richtung Iqaliat. Das ist ein Dorf direkt am Übergang zum hohen Eis. Ich habe dort Freunde." Bei diesen Worten spielte er an einer Art Schmuckstück herum, das er an einem Lederband um den Hals trug und dass die Reisenden schon früher an ihm gesehen hatten.
"Dort können wir in Erfahrung bringen, wie die Bedingungen oben auf dem Plateau sind, bevor wir uns unwissend ins Abenteuer stürzen."
Da niemand aus der Karawane etwas gegen den Plan einzuwenden hatte, änderten sie also an diesem Tag die Richtung und verließen nun den Fluss, um sich strikt nach Norden zu halten. Dabei verbrachten sie inzwischen den größten Teil der Reise in Dämmerung, denn bereits in den letzten Wochen mussten sie mehr und mehr feststellen, dass die Sonne sich nur noch für wenige Stunden am Tag heraustraute. Wurden auch in ihrer Heimat im Winter die Tage kürzer, so schafften sie es inzwischen vielleicht noch, sechs Stunden am Tag zu reisen, von denen an zweien die Sonne zu sehen war. Alles andere war Dämmerung, und ihre Mahlzeiten nahmen sie inzwischen im Dunkeln ein, um überhaupt noch etwas Reisezeit zu bekommen.
"Das wird noch schlimmer." machte Ulf ihnen keinen Mut. "Nach Iqaliat werden wir in die ewige Nacht kommen, fürchte ich. Die Sonne bekommen wir dann erst wieder zu Gesicht, wenn wir das hohe Eis verlassen werden - oder so lange brauchen, dass der Frühling beginnt. Bis auf drei, vier Stunden am Tag wird es dunkle Nacht sein."
Trotz dieser Tatsache, die ihnen nun zum ersten Mal richtig bewusst wurde, brauchten sie nur zwei Reisetage, bis sie im letzten Licht der Dämmerung vor sich Iqaliat erblickten. Schon während des gesamten Tages sahen sie mit wachsendem Respekt die massive Eisdecke sich hoch vor ihnen auftürmen, die landläufig als das Hohe Eis bezeichnet wurde. Ulf erklärte ihnen unterwegs, dass die Eismassen sich auf dem Plateau mehr als eine Meile auftürmten. Am Rande erhob sich die gesamte Eisplatte etwa hundert Meter über das umliegende Gelände, und Iqaliat war genau an diese Klippe gebaut worden. "Im Sommer ergießen sich teils meilenbreite Wasserfälle vom Plateau herunter, wenn selbst auf dem hohen Eis der Schnee schmilzt. Das macht die Reise unberechenbar, doch immerhin damit müssen wir uns jetzt nicht herumschlagen."
Als sie sich Iqaliat schließlich näherten und die ersten Lichter der Siedlung erblickten, erkannten sie, dass es sich eher um eine befestigte Stadt handelte: Eine Mauer umschloss die Siedlung, und nur ein Tor von fast dreißig Fuß Höhe, das derzeit geschlossen war, verschaffte Einlass. Neben dem Torhaus stand ein Wachturm, der dieses sogar noch überragte, und als die Karawane schließlich vor dem Tor zu stehen kam, erkannten sie mehrere Wachen mit Speeren.
"Die scheinen aber gerade sehr wachsam zu sein." murmelte Ulf, und rief dann laut: "MEIN NAME IST ULF GORMUNDR! WIR SIND REISENDE AUF DEM WEG NACH TIAN XIA. RUFT SONAVUT, SIE WIRD FÜR MICH BÜRGEN!"
Nach einem kurzen Wortwechsel, den sie nicht verstehen konnten, rief eine der Wachen ihnen zu zu warten. Nach einigen Minuten schließlich begann das große Tor, sich laut ächzend zu öffnen, und die Karawane konnte einfahren. Ulf wurde von einer älteren Frau mit wettergegerbter Haut herzlich begrüßt und die beiden wechselten einige Worte in einer Sprache, die die Gefährten nicht verstanden. Schließlich wand der Führer sich wieder den anderen zu.
"Kommt mit." sagte er zu den Abenteurern. "Sie hat uns zu sich nach Hause eingeladen - es gibt fermentierte Ziegenmilch!"
Während Koya und einige andere sich um das Lager für die Karawane kümmerten, schlossen sich also Rumar, Mugin, Arashi, Garridan und Solitaire dem Führer an und nahmen die Einladung dessen Bekannter an, gespannt auf den Geschmack der fermentierten Milch - und froh, bald ein wenig Wärme in ihre ausgekühlten Glieder zu bekommen.