Bard verabschiedete sich, um nach Astrid zu suchen, sobald der Häuptling die Rede vor dem Dorf gehalten und Tunuak exekutiert hatte, und machte mit den anderen aus, wo er sie finden könnte. Vielleicht würde er Stunden unterwegs sein, aber er wollte auf jeden Fall zurückkehren, und helfen, mit dem Drachen zu verhandeln und der dämonischen Verseuchung der Natur ein Ende zu bereiten.
Man konnte nur hoffen, dass die Seele des Schamanen im Jenseits ihren Frieden fand. Wie bitter und erschreckend musste für die Erutaki die Botschaft sein, dass ihr weiser Mann und Beschützer gegen sie geplottet hatte?
Hätte Bard auch nur eine geringe Möglichkeit gesehen, Tunuak von seinem Wahn zu befreien, hätte er versucht, dem alten Mann zu helfen und ihm den Tod zu ersparen. Hinrichtungen waren zwar auch in Bards Heimat üblich, aber er hatte sie noch nie gutgeheißen. Auch wenn der Tod ein Teil des Naturzyklus war, war das Hier und Jetzt, das Leben, etwas Schützenswertes. Selbst wenn dieses Leben einem Mörder gehörte. Um so jemanden aufzuhalten (was man unbedingt musste!), sollte man sich nicht selbst auf sein Niveau hinabbegeben und es „Gesetz“ und „Tradition“ nennen. Nicht immer, jedenfalls. Man sollte es vermeiden, fand Bard. In diesem Fall hatte er allerdings keinen anderen Weg gesehen. Gefährliche Magiewirker konnte man nicht einfach in eine Zelle sperren.
Doch handelte es sich bei diesem Mörder wirklich um einen Mörder? Hatte Tunuak Schuld an seinen Missetaten oder hatte allein Katiyanas dämonischer Einfluss aus ihm gesprochen? Es war nicht festzustellen. Bard konnte deshalb nicht anders, als Mitgefühl und Bedauern für Tunuak zu empfinden – obwohl er selbst zum Opfer von Tunuaks Treiben geworden war.
Gedanken an Bards Tortur in der Höhle begleiteten ihn, während er aus Iqaliat hinaustrat. Wie viel Zeit hatte er dort eigentlich verbracht? Bard hatte sein Zeitempfinden vollkommen verloren. Fröstelnd schlang er seinen Mantel enger um sich. Es war nicht die Kälte, die ihn zittern ließ (immerhin sorgte Solitaires Zauber immer noch für angenehme Wärme), sondern eine eklige Kombination aus Erschöpfung, Schmerzen, Schuldgefühlen und üblen Erinnerungen an all das, was ihm widerfahren war, seitdem er hier am Rand des Hohen Eises angekommen war. Es war ihm als höre er immer noch das Flüstern des Abyss – besonders, als er nach der Ley-Energie der Wildnis tastete, um sich den Weg durch die verschneite Landschaft zu erleichtern.
[1] Und er hatte keine Ahnung, wo Astrid abgeblieben war. Sie konnte sich zwar selbst mit Nahrung versorgen, war also nicht direkt von seiner Anwesenheit, um zurechtzukommen, aber er fürchtete, ihr könnte dennoch etwas zugestoßen sein. Eine Rieseneule wäre für Erutaki-Jäger vielleicht eine Bedrohung und für einen herumstreifenden Drachen bestimmt keine unattraktive Mahlzeit.
Die Landschaft war weit und weiß. So nah am Nordpol fand man nicht so viel Vegetation wie in Bards wald- und moorreicher Heimat, den Landen der Linnorm-Könige, aber für eine Schnee-Eule, selbst wenn sie so groß war wie Astrid, war die Umgebung dennoch ideal zum Jagen und Sich-Verstecken. Ihr weißes Gefieder tarnte sie gut in der eisigen Landschaft, also machte Bard sich geringe Hoffnungen, sie zeitnah zu entdecken. Sie würde ihn ohnehin eher erblicken als andersherum – zumindest, wenn sie wohlauf war, was er inständig hoffte. Es blieb Bard nicht viel anderes übrig, als durch die Gegend zu streifen, immer wieder ihren Namen zu rufen und in die Signalpfeife zu blasen, deren Ton sie gut kannte. Für Bard klang das Signal wie ein leises, schrilles Kratzen, aber für Vogelohren war es weithin vernehmbar.
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