Wulfgar sucht vor allem den Boden nach Spuren ab. Dazu begibt er sich beidseits der Straße jeweils ein gutes Stück in den Wald hinein. Keine Reh- oder Wildschweinspur entgeht ihm dabei, noch die von Eichhörnchen, Fuchs, Dachs, Marder oder Igel und auch kein Mäusebau. Endlich trifft er auch auf Zweibeiner-Spuren. Ein Fußabdruck hier, eine mit der Klinge gehauene Schneise durchs Unterholz, seither wieder zugewachsen, und schließlich – so weit von der Straße entfernt, dass man vielleicht gerade noch einen Ruf von dort vernähme – ein kleiner, versteckter Unterschlupf, in welchem Wulfgar und Brakus so gerade eben Platz fänden, oder vielleicht drei normalgroße Menschen. Darüberhinaus fand er noch etliche andere Spuren, die sich jemand zu verwischen bemüht hatte, sodass sich daraus nichts rechtes mehr schließen ließ.
Der Fußabdruck ist deutlich kleiner als Wulfgars eigener und weniger tief, und zeugt von leichtem Schuhwerk mit weicher Sohle. Bei der Person muss es entweder sich entweder um einen schmächtigen Mann oder eine kräftige Frau gehandelt haben. Allzu alt kann der Abdruck nicht sein, denn der große Sturm vor zehn Tagen hätte ihn fortgeschwemmt. Anders sieht es mit der Schneise im Unterholz aus; diese muss im Frühjahr geschlagen worden sein, denn sie ist nur noch daran zu erkennen, dass unterhalb der abgeschlagenen Zweigspitzen eine Unzahl frischer Seitentriebe regelrechte Besen bilden, wodurch das Dickicht nun noch dichter ist als zuvor.
Der Unterschlupf – Äste an die Stämme einiger dicht beisammen wachsenden Birken gelehnt, die quergeflochtene Zweiglein halten noch immer einiges an Laub zusammen – wurde, so schätztWulfgar, vor zwei bis drei Monaten aufgegeben. Seine Bewohner hatten hier zuvor wohl etwa zwei bis drei Wochen verbracht, wie er aus den Überresten (Knochen, Asche, festgetretene Erde rundum den Platz...) schließt. Die Pflanzenstengel, die er im Inneren findet, stammen etwa von einem Beerenstrauch, dessen Früchte Anfang Brachmond reifen – das wäre ja genau die Zeit des Überfalls auf den Kaufmannszug, von dem Arnvidh sprach. Von der Bauart her können es wohl Kolkar gewesen sein – oder aber jeder beliebige Waldmann.
Auf den Beweis für die Anwesenheit von Kolkar stößt Wulfgar erst, als er fast wieder zurück an der Straße ist, auf einer kleinen Lichtung, unter einem Weißdornbusch, welcher über und über mit roten Früchten hängt: eine Grabstelle, zweieinhalb auf vier Schritt groß, als flacher Hügel aufgeschichtet, mit Dornenzweigen bedeckt, welche ihrerseits mit Steinen beschwert wurden. Zwischen den dornigen Zweigen aber stecken allerlei Dinge, die den Toten gehört haben mussten, fest eingeklemmt und teils schon eingewachsen: ein Ledergürtel, eine Schwertscheide, ein leerer Köcher, eine zerbrochene Klinge. Den Kolkar gilt der Weißdorn als Ort der guten Geister und damit Schutz vor den bösen, als Hüter des Schlafes und Wächter über die Toten. Dies ist eindeutig eine von Kolkar errichtete Grabstätte, wenn die Gegenstände auch eher auf menschliche Handwerkskunst deuten.
Wenn Wulfgar seine Funde nun alle zusammenfügt, so ergibt sich für ihn hier folgendes Bild: ein bis drei Kolkar haben hier für zwei bis drei Wochen gehaust aus Gründen, die ihre eigenen waren. Dann ereignete sich auf der nahen Straße der Überfall auf den Kaufmannszug. Haben die Kolkar aus dem Unterschlupf mitgemischt oder nicht? Das lässt sich mit den Spuren, die er bisher gefunden hat, nicht beantworten. Jedenfalls haben die Kolkar hinterher die Toten begraben, und zwar mit Würde. Danach sind sie dann wohl schleunigst aus der Gegend verschwunden.
Abdo folgt zunächst Wulfgar, da der Waldmann zu wissen scheint, was er tut, aber nach einiger Zeit verliert er doch die Geduld und überlässt ihn seinem Tun – zutiefst beruhigt, immerhin, dass die Gefährten niemals würden hungern müssen, solange Wulfgar mit ihnen unterwegs war, sofern dieser das Wild nur halbsogut erjagen kann, wie er dessen Spuren im Erdreich ausmacht.
Der Ya'Keheter selbst hält sich von da an näher an die Straße, denn er ist auf der Suche vor allem nach Kampfspuren, welche er schließlich auch findet. Ja, das hier war eindeutig ein Hinterhalt und zwar, soweit er das beurteilen kann, ein gut geplanter. Eine bessere Stelle hätte man kaum finden können, um dem Handelszug aufzulauern... die Wegbiegung... Deckung für die Angreifer, aber keine in Reichweite der Verteidiger... besser hätte man die Männer nicht plazieren können... Maximal fünf bis sechs waren es, wenn er das richtig sieht, Verteidiger zehn bis zwölf... Das spricht für gut ausgebildete, überlegene Kämpfer.
Viel mehr lässt sich hier leider nicht erkennen. Auch mit den geschätzten Zahlen ist Abdo sich nicht so ganz sicher. Der gesamte Ort ist wurde später ziemlich zertrampelt, zweifellos durch die zehn von Uther ausgesandten Gefolgsmänner. Auf deren Spuren konzentriert Abdo sich also als nächstes. Hier lässt sich unschwer erkennen, in welche Richtung sie schlussendlich weiterzogen: weiter in den Wald hinein, Richtung Nordwesten. Er folgt ihnen ein kurzes Stück, doch kehrt er bald zur Gruppe zurück.
Ein zweites Mal sucht der den Ort des Hinterhalts ab. Überreste findet er nahezu keine. Ein paar verirrte Pfeile, ein verlorenes Gepäckstück, ein paar Tuchfetzen an einem Dornenbusch. Spuren von Kolkar findet er keine. Wie Jan sagte: weder spricht etwas dafür noch dagegen... außer vielleicht die Präzision des Angriffs? Wie diszipliniert sind die Kolkar, wie taktisch versiert? Er hat sie bislang immer nur als "primitiv" beschrieben gehört.
Lîf beteiligt sich nicht an der Suche, sie lauscht lieber in den Wald hinein. Es sind recht junge Bäume, die sie hier umgeben, und entsprechend kindlich-unverständiges Zeug plappern sie daher in entzückender Sorglosigkeit. Auf sich selbst zentrierte Wesen, die sich – kindgleich – kaum einer Sache gewahr sind außer der eigenen Existenz, dem eigen Befinden, den eigenen unmittelbaren Bedürfnissen. Sie versucht erst gar nicht, näher hinzuhören, denn es wäre wohl in etwa so verständlich wie Säuglingsgurgeln.
[1]Auch
Arnvidh kann nicht umhin zu bemerken, wie jung der Wald hier ist. Zu seiner Zeit lag die Straße in der freien Landschaft, lag die Waldgrenze noch ein gutes Stück im Westen, ziemlich genau da, wo die alte Karte ihn anzeigte...