Der erste Tempel, den Shin fand, war Pelor gewidmet. Mürrisch schaute er auf das weiße Marmorgebäude und wollte sich schon wieder abwenden, als er einer seltsamen Stimme in seinem Inneren folgend doch über die Schwelle des Prunkbaus trat. Unter den weiß und blau gewandeten Priestern war er in seiner schwarzen Kleidern ganz klar in der Unterzahl. Wie der Wolf in der Schafsherde, dachte er, als er staunend über diese so plump zur Schau gestellte Naivität durch die Hallen des Tempels schritt. Statuen von edlen, schwer gerüsteten Kriegern und Buße tuenden Priestern säumten die Gänge, die von dem Hauptteil des Tempels zu den Nebengebäuden führten.
Während er durch die prunkvollen Räumlichkeiten schritt, erinnerte sich Shin an seinen letzten Besuch in einem solchen Tempel. Es musste wohl kurz vor dem Tode seines Vaters gewesen sein, denn dadurch war seine Mutter von Glauben an diesen Heuchler abgefallen. Er erinnerte sich noch gut an die tiefe Stimme seines Vaters, die ihn dazu ermahnte, endlich Ruhe zu halten. Auch den Geruch des Weihrauches, der hier allgegenwärtig war, erkannte er sofort wieder. Er unterschied sich fundamental von dem Weihrauch, den sie zu Ehren Pyremius verbrannten, denn der roch nach verkohlendem Fleisch. Dieser Weihrauch hatte etwas süßliches, harziges an sich, was Shin gleichzeitig beruhigend sowie ekelerregend fand. Wie konnten diese Schwächlinge nur von sich behaupten, allen Bedürftigen zu helfen und gegen das Leid auf der Welt zu kämpfen? Nannten sie es etwa Hilfe, einem Waisen die letzten Ersparnisse seiner Mutter aus den Händen zu reißen, für ein Begräbnis, das sie nicht gewollt hatte? Oder vielleicht meinten sie mit Hilfe ja, ein von Schimmel und Schaben befallenes Waisenhaus zu unterhalten, in dem die Kinder mit Schlachtabfällen und verfaulten Kartoffeln ernährt wurden, während die fetten Priester ihre weißen Roben mit dem Fett gebratener Wildschweine beschmutzen? Nein, von dir habe ich nie Hilfe erhalten, Pelor, du Bastard der Sonne! Pyremius hat uns aufgenommen, als wir deinen Klauen entronnen sind. Er gab uns eine Heimat, als wir von deinen Dienern wegen eines Laibes Brot geschlagen wurden. Er half uns, als wir...
"Kann ich Euch helfen, mein Bruder?" Der halbelfische Priester, der ihn ansprach, erinnerte Shin schmerzhaft an seinen Jugendfreund Derlan. Zusammen waren sie dem Waisenhaus entflohen und hatten so einige Abenteuer erlebt, bis sie in den Tempel Pyremius eingetreten waren. Doch Derlan hatte sich nicht als würdig erwiesen, hatte Pyremius enttäuscht. Er war zu schwach, dachte Shin nicht ohne ein Gefühl der Bitterheit, während der Priester ihn immer noch anstarrte, wohl auf eine Antwort wartend.
"Tatsächlich könnt Ihr mir helfen." Warum war seine Stimme so gebrochen? Es musste der schlechte Einfluss dieses Gebäudes sein. "Ich suche das Scriptorium dieses Tempels. Könnt Ihr mir den Weg weisen?" Der Priester nickte mit einem gütigen Lächeln und führte Shin zu den Schreibwerkstätten des Tempels.
Nachdem er eine kleine Auswahl nützlicher Schriftrollen und einen unscheinbaren Schriftrollenbehälter erworben hatte, kehrte Shin dem Pelorschrein schleunigst den Rücken und machte sich wieder auf den Weg zur Taverne. Dort war ja für den Nachmittag ein Treffen einberaumt und Shin wollte zuvor noch einige Bußgebete an Pyremius sprechen, wozu er die Einsamkeit seines Zimmers vorzog.