„Er wird wach.“
Astennu kommt die Stimme irgendwie bekannt vor, auch wenn er sie auf Anhieb nicht zuordnen kann. Der Waldläufer öffnet die Augen, nur um sie sofort wieder leise aufstöhnend zu schließen. Es ist keine Freude, aus tiefer Bewusstlosigkeit zu erwachen, vor allem dann nicht, wenn der eigene Kopf sich wie die neue Behausung eines Bienenschwarms anfühlt.
„Unvorhergesehene Katastrophen machen keinen Unterschied. Sie treffen jeden, in der Stadt wie in der Natur.“ So hatte die Seherin zu ihm gesagt, als er ihr die Karte, die er gezogen hatte, wieder zurückgab. Er hatte gedacht, alles über Katastrophen zu wissen, und doch, als er unter den Schaufelhieben der Lämmer das Bewusstsein verloren hatte, hatte er erkennen müssen, dass er schon wieder vergessen hatte, wie groß die Angst der Lämmer vor ihrem Herrn und Meister war, dass sie selbst ihre Befreier niederschlugen, ohne die Möglichkeit überhaupt wahrzunehmen, die sich ihnen geboten hatte.
Astennus Gedanken wandern zurück, in das kleine Haus am Hafen, in dem die Worte einer varisianischen Seherin in ihm die Hoffnung geweckt hatten, endlich Rache üben zu können.
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"Diese drei Karten," Zellara wies auf die erste Spalte, die sie soeben aufgedeckt hatte, "zeigen dass was war. Ihr alle seid Teil einer Prophezeiung, Bauern in einem Spiel, dessen Regeln ihr nicht kennt. Und doch", liebkosend fuhr ihre Fingerspitze über den Schlosser, "seid Ihr selbst der Schlüssel zu Eurem Schicksal. Wer weiß, vielleicht gibt Euch das die Macht, die Prophezeiung in Eurem Sinne zu verändern. Doch seid gewarnt. Eine Gelegenheit habt Ihr bereits verpasst, und niemand kann sagen, ob ihr eine zweite Erhalten werdet."
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Und wie recht sie gehabt hatte. Auf der Stelle hatten sie sich zu Lamms Behausung aufgemacht, nicht ahnend, dass sie bereits zuvor entdeckt und erwartet worden waren. Und nun liegt er hier, gefesselt und mit Kopfschmerzen, die seinen Schädel schier explodieren lassen wollen, ein (noch) lebender Beweis für die Wahrheit in Zellaras Karten. Sie hatten ihre Gelegenheit gehabt. Und verspielt.
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"Diese drei Karten", Zellara deckte die zweite Spalte auf, "stehen für eure Gegenwart. Nutzt die Informationen, die Euch gegeben werden. Sucht den auf, der diese Informationen sammelt und versteht das Muster, dass sich aus diesen Informationen ergibt. Doch wiederum: Seid gewarnt. Das Muster zu sehen und es zum Guten zu verwenden, sind zwei paar Schuhe. Ihr seid Teil eines Tanzes, " ,scharf sah sie Jal an, der genau diese Karte zuvor gezogen hatte, "doch niemand weiss, ob es Euch dort gefallen wird, wo die Schritte des Tanzes euch hinführen."
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Er hat diesen Teil der Weissagung damals nicht auf Lamm bezogen, da dieser zwar ein Sammler ist, aber nicht von Informationen, sondern von Kindern; Kindern, die er wie Sklaven hält, nach Belieben misshandelt und zwingt, für ihn als Diebe, Kuriere und Geldeintreiber zu arbeiten, sofern sie nicht bereit sind, ihre Weigerung mit Schmerzen oder schlimmerem zu zahlen. Er glaubt immer noch nicht, dass die Seherin von Lamm sprach. Aber eins ist sicher: Ihm gefällt es nicht im geringsten an diesem Ort, an den ihn „die Schritte des Tanzes“ hingeführt haben. Nicht mit Fesseln, die so scharf in sein Fleisch schneiden, dass er längst das Gefühl in seinen Gliedern verloren hat.
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Die Augen der Seherin weiteten sich leicht, als sie die letzten drei Karten aufdeckte: Den Jahrmarkt, die verborgene Wahrheit und den Paladin. Hart tippte sie mit dem Finger auf diese letzte Karte.
"Überlegt jeden eurer Schritte gut. Den Kurs beizubehalten, mag so manches Mal genau so wahnsinnig sein, wie von ihm abzuweichen. Misstraut euren Führern, genauso wie ihr jenen misstraut, die euch vom Weg abzubringen zu versuchen. Ihr geht auf einem ganz schmalen Grat über eine endlose Schlucht. Und doch, hinunterzuspringen mag besser sein, als dass, was euch am Ende des Pfades erwartet. Es liegt an euch, die Illusion", ihr Finger wanderte zum Jahrmarkt, " von der Wahrheit", und wieder zurück zur verborgenen Wahrheit, " zu trennen. Geht einen Schritt fehl, und die Prophezeiung wird scheitern. Wer weiß, ob das zum Guten oder zum Schlechten dienen mag."
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Waren sie gleich auf dem ersten Schritt fehlgegangen? Hätten sie die Weisheit der Karten erkennen und selbst Zellara misstrauen sollen, ihrer Führerin auf einem Weg, der sie in die jetzige Situation gebracht hatte.?
Astennu muss sich eingestehen, dass irgendetwas an der Varisianerin ihn gestört hatte. Ein Instinkt hatte angeschlagen, war aber von ihm ignoriert worden. Zu begierig war er darauf gewesen, seine Rache an dem Mann zu nehmen, der ihn damals fast getötet hätte.
Ein schmerzliches Lächeln umspielt seine Lippen, doch drängt er das Lachen, dass sich voller Selbstverachtung seiner Kehle entringen will zurück. Er weiß zu gut, was dieses Lachen seinem Kopf antun würde. Und dann hört er wieder die Stimme, die sich nun mit dem Namen Jal zu verbinden scheint.
„Komm, Mann, mach die Augen auf, wir wissen, dass Du wach bist. Dich haben sie ja übel zugerichtet, dagegen sind Sopor und ich richtig gut weggekommen.“
Astennu öffnet die Augen und schaut zu den andern beiden hinüber. Sofort erkennt er die Untertreibung in Jals Worten, dessen Schläfe mit verkrustetem Blut bedeckt ist, was mehr als deutlich beweist, dass auch er sich nicht kampflos ergeben hat. Ebensowenig wie der dritte Gefangene, der schweigsam zu ihnen hinüberstarrt.