Mythen des Mondes
Zwei Monde erhellen die Nacht von Thaikaris: Bleicher Wolf und Stiller Hase. Während der bläulich-weiße, fahle Wolf den Nachthimmel dominiert, ist der deutlich kleinere Stille Hase in manchen wolkenverhangenen Nächten kaum zu sehen.
Im Laufe eines Jahres und auch jedes Monats verwandelt der Bleiche Wolf seine Gestalt: Zum Jahresbeginn ist er voll, aber nur etwa doppelt so groß wie der Stille Hase. Dann verwandelt er sich innerhalb eines Monats in eine schmale Sichel, nur um im Laufe des nächsten Monats wieder zu einem großen Vollmond zu werden. Im Laufe eines halben Jahres allerdings nimmt auch seine Größe zu, so dass er im Sommer mehr als drei Mal so groß ist wie der Hase, bis er ab Erntefreud langsam wieder kleiner wird.
Der Bleiche Wolf umrundet in jeder Nacht einmal den Himmel, und streift dabei auch die Position des Stillen Hasen. Der Stille Hase hingegen behält nicht nur seine Position, sondern auch seine Größe stets bei, und er steht jederzeit als Vollmond am Himmel.
Dieses Zusammenspiel von Hase und Wolf, bei dem der Jäger die Beute umkreist, hat die Bewohner von Thaikaris zu vielen Geschichten inspiriert. Viele dieser Geschichten sind nur Erzählungen, von denen jeder weiß, dass sie reine Fantasie sind. Manche aber sind Mythen, die von den Bewohnern der Welt als wahr oder zumindest im Kern wahr angesehen werden.
Prinzipiell stehen Wolf und Hase für das Prinzip der Dualität, die zwei Seiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch fest zusammen gehören. Als Symbol der Dualität stehen Wolf und Hase auch für die Prinzipien der Männlichkeit und der Weiblichkeit, aber nicht einfach nur als klare Unterscheidung von Mann und Frau, sondern eher in dem Sinne, dass jeder sowohl männliche als auch weibliche Elemente in sich trägt.
Der Wolf ist demnach das männliche Prinzip, der Jäger, Zerstörer und Ernährer, und die treibende Kraft der Veränderung. Der Hase hingegen ist das weibliche Prinzip, der Behüter, die sich notfalls opfernde Mutter, die ihre Jungen beschützt, und Fundament der Stabilität. Beide können nicht ohne einander, und auch, wenn sie sich manchmal sehr fern sind, ist es doch lebensnotwendig, dass sie sich immer wieder nahe kommen.
Für die Elfen ist der Bleiche Wolf der erste Jäger von Thaikaris, dessen Kinder noch immer in der Wolfssteppe leben, und von denen alle anderen Völker die Kunst der Jagd erlernt haben. Er ist kraftvoll und voller Eleganz, aber auch gnadenlos und kalt, wenn es sein muss. In seiner ewigen Jagd auf die Tiere des Himmels hat er in alten Zeiten beinahe das Gleichgewicht des Himmels zerstört, und so schuf Ithvariayl, der Geist der Magie, den Stillen Hasen. Größer und schöner als jedes andere Tier des Himmels, verlangte es den Bleichen Wolf nun nach dieser prachtvollen Beute. Doch auch, wenn die Sterblichen auf Thaikaris den Hasen nachts immer sehen können, kann er sich durch Zauberei vor den Augen des Wolfs verbergen. Und so jagt der Wolf den Hasen jede Nacht vergeblich, und findet nur noch am Tag genug Beute, um zu überleben. So ist das Gleichgewicht des Himmels gewahrt, indem sich der Stille Hase jede Nacht als Beute präsentiert, um alle anderen zu schützen.
In den gnomischen Mythen kommt der Stille Hase jede Nacht aus seinem Bau, um den Bleichen Wolf anzulocken. Sobald der Wolf den Geruch des Hasen wahrnimmt, kommt er aus dem Himmelswald gerannt, um die große Beute zu jagen. Sobald er den Hasen erreicht hat, hüpft dieser aber zurück in seinen Bau, so dass der Wolf ihn nicht erreichen kann. Frustriert lässt der Wolf irgendwann vom Hasen ab, und kehrt dann zurück in seinen Wald.
Die menschlichen Mythen berichten vom Bleichen Wolf als dem allmächtigen Zerstörer, der vor langer Zeit schon einmal das Universum vernichtet hat. Doch aus den Trümmern entstand ein neues Universum, und somit die Welt Thaikaris. Auch heute bereitet sich der Bleiche Wolf wieder auf die Zerstörung der Welt vor, doch muss er dafür zuerst den Stillen Hasen fangen, der im Auftrag von Mutter Sonne das Geheimnis des Universums versteckt hat. Jede Nacht leitet der Stille Hase den Bleichen Wolf in die Irre, und solange sich die Bewohner der Welt als würdig erweisen, wird der Stille Hase das Geheimnis des Universums auch weiter schützen.
Die Halblinge und die Zwerge haben interessanterweise einen gemeinsamen Mythos, wenn es um die beiden Monde geht. Demnach ist der Bleiche Wolf der „Seelenjäger“, die Personifizierung des Todes, während der Stille Hase das Leben repräsentiert. Jede Nacht beobachtet der Stille Hase die Welt, und schickt die Seelen ungeborener Kinder auf die Welt. Gleichzeitig ist der Bleiche Wolf auf der Jagd nach alten Seelen, die er von der Welt mitnehmen kann. Immer wieder versucht er aber auch, dem Stillen Hasen eine der ungeborenen Seelen abzujagen. Wenn dies geschieht, stirbt ein Kind noch vor der Geburt.
Die ungeborenen Seelen entspringen Mutter Sonne, und jene Seelen, die der Bleiche Wolf fängt, kehren danach auch wieder zu Mutter Sonne zurück.
Dualität der Monde
Der Bleiche Wolf und der Stille Hase stehen traditionell für verschiedene, gegensätzliche Aspekte. Obwohl es in den verschiedenen Kulturen Unterschiede in der genauen Interpretation gibt, stimmen die meisten Bewohner von Thaikaris den folgenden Zuordnungen zu:
Bleicher Wolf – Stiller Hase
Tod – Leben
Zerstörung – Erschaffung
Ernährer – Beschützer
Veränderung – Stabilität
Körperlichkeit – Magie
Männlichkeit – Weiblichkeit
Vater – Mutter
Jäger – Beute
Instinkt – Intelligenz
Härte – Sensibilität
Selbstverantwortung – Fremdverantwortung
Ende – Anfang
Dabei wird die Dualität meist als notwendiges Gleichgewicht verstanden, bei dem die eine Seite nicht ohne die andere existieren kann, und sich durch die Verbundenheit ein gesunder Kreislauf ergibt. So wird bei der Dualität von „Ende und Anfang“ normalerweise auch tatsächlich der Bleiche Wolf (Ende) zuerst genannt, um zu unterstreichen, dass nach jedem Ende auch ein neuer Anfang folgt.