Trotz der frühen Stunde wurde der letzte Tag des Monats bereits von einer warm strahlenden Sonne erhellt. Obwohl die Ernten in diesem Jahr wieder einmal gut waren, stöhnten die Bauern, weil es seit Wochen kaum geregnet hatte – der Regenfreud brachte ihnen in diesem Jahr wenig Freude.
Das Laub der Bäume, die in Himmelstor fast alle großen Straßen zierten, verfärbte sich allmählich, und auch die Zelte und Stände des Weißen Marktes waren – trotz seines Namens – vielfach schon an die herbstlichen Farben angepasst. Der große graue Glockenturm, der sich viele Dutzend Meter über die Häuser der Stadt erhob, hatte vor wenigen Minuten zur achten Stunde geschlagen, und das bunte Treiben des Marktes erwachte wieder einmal zu neuem Leben.
Marktschreier überboten sich gegenseitig mit ihren Angeboten – „Ein ganzer Korb voller Fische! Nur 2 Silbermünzen für Euch, junge Dame! Kommen Sie, den Korb geb’ ich Ihnen dazu!“ –, während Sänger, Jongleure und Taschenspieler alles gaben, um ein wenig Aufmerksamkeit – und einige Geldstücke – von den ersten Marktbesuchern zu erlangen.
Inmitten dieses aufkeimenden Trubels, in dem Edelleute ebenso in der Menge untergingen wie Arbeiter, und sich selbst die sonst so ruhigen Elfen zu hitzigem Feilschhandel hinreißen ließen, breitete sich ein starker Essensgeruch aus. Denn mitten auf der Straße, die zu beiden Seiten dicht mit Ständen gesäumt war, wurde gerade ein neuer Stand eröffnet. Eine ganze Halblingsfamilie war damit beschäftigt, das Feuer unter einem großen Kessel in Gang zu halten, in dem offenbar eine Suppe brodelte. Nur ein Halblingsjunge stand etwas abseits und bemalte ein Holzschild mit den Worten:
"Yimma Fahrns Kartoffelsuppe. 1 Kupfer pro Teller."
Nicht weniger Aufmerksamkeit als die Halblinge erhielt der große Mast, der keinen Meter hinter dem Suppenstand in die Höhe ragte. Am hellen Holz wurden in den letzten Tagen immer mehr Zettel angeschlagen, die meisten wohl mit Arbeitsgesuchen und –angeboten. Auch an einigen der Stände konnte man die Schilder erblicken, auf denen Aushilfen, Boten und Aufpasser gesucht wurden.
Irgendwo hier, auf der Güldenen Allee, sollte ihr Stand sein: Quinta Bogenmacherin, angeblich die beste, ganz bestimmt aber die berühmteste Bognerin von Himmelstor. Jedenfalls hatte man Waldemar das immer wieder bestätigt, als er die – zumeist überraschend freundlichen – Bewohner der Stadt nach den besten Bogenbauern gefragt hatte.
Auch wenn der Markt noch nicht so überfüllt war wie gestern um die Mittagszeit, als Waldemar angekommen war, musste man bereits genau auf seine Schritte achten.
Vorbei am Suppenstand der Halblinge, erblickte der junge Waldläufer schließlich das Ziel seiner Suche: Ein großes hölzernes Schild mit einem verzierten „Q“ darauf hing über dem Stand, an dem Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte Bögen feil geboten wurden. Quinta selbst konnte er über die Entfernung nicht erkennen, weil die Besucher auf den Straßen ihm die Sicht versperrten. Es waren aber nicht mehr als zehn oder zwölf Schritt bis zu dem großen Stand.
Ein wenig verloren wanderte Milan über den Markt. Der Geruch gerösteter Kastanien kämpfte gegen den sich ausbreitenden Duft einer heißen Kartoffelsuppe, und Milans Bauch rief mit einem lauten Knurren nach einem guten Frühstück. So viele Stände, so viele Berufe... und kein einziger sprach ihn an. Wollte er Bogenbauer werden? Oder Edelsteine verkaufen, wie der Gnom gleich neben dem Bogen-Stand? Er könnte als Bote sein Geld verdienen, oder den ganzen Tag an einem Stand stehen und aufpassen, dass niemand etwas stahl. Keine dieser Perspektiven erschien ihm auch nur im Ansatz reizvoll...
Auf der langen Reise vom großen Wald bis in die große Stadt hatte Ronga viele aufregende und beeindruckende Dinge erlebt. Nichts aber war so farbenprächtig, so aufregend und lebendig gewesen wie dieser Markt. Staunend betrachtete er die vielen Wunder, die von den "Händlern" - so nannte man die Leute hinter den Ständen - im Tausch gegen die runden Metallscheiben angeboten wurden. Besonders aber faszinierten ihn die Musiker, die nichts anderes taten, als die Besucher des Marktes mit ihrem Gesang und ihren Instrumenten zu unterhalten.
"Junger Halbling", sprach ihn eine alte, gebeugte Frau an, die an einem einfach Holztisch saß. Sie trug abgewetzte, dreckige Kleidung und ein fleckiges braunes Kopftuch. Ihre Haut war so runzlig, dass selbst die alten Frauen, die er bisher gesehen hatte, noch jung aussahen im Vergleich zu ihr, und ihre große gebogene Nase schien den Großteil ihres Gesichts einzunehmen. "Kommt her, Junge", krächzte sie, "ich kann Eure Zukunft sehen!"
"Es ist doch so", erklärte der Gnom. "Die Sonne anzubeten ist ungefähr so, als würde ich das große Zahnrad anbeten, dass die alte Hebemaschine von meinem Onkel Gustav antreibt. Nur ist die Sonne eben größer und treibt die ganze Welt an. Trotzdem ist sie erstmal einfach nur das: Ein Rad."
Der Gnom blickte Eretria herausfordernd an. Seit fast zehn Minuten diskutierte sie nun mit ihm, aber er ließ sich nicht von seinem Standpunkt abbringen. Fast gewann sie den Eindruck, dass er um der Diskussion willen mit ihr diskutierte. Doch trotz seiner Halsstarrigkeit hatte der gnomische Edelstein-Händler eine solch sympathische Ausstrahlung, dass auch die junge Priesterin die Diskussion genoss.
Etwas kritisch beäugte Calfay den kurzen Speer, den sie gerade erworben hatte. "Gutes Speer", versicherte ihr der kleinwüchsige, rundliche Händler, der offenbar von weit her nach Himmelstor gereist war. Neben Speeren bot er auch Äxte, Schwerter und Schilde an, aber von all seinen Waffen hatte der Speer noch den besten Eindruck gemacht. Nun ja, früher hatte sie mit Feder und Kiel "gekämpft" - dieser Speer war in jedem Fall eine Verbesserung.
Mit einem Blick auf die alte Frau, die ihren Wahrsager-Stand gleich neben dem Waffenhändler aufgebaut hatte, fügte der Händler noch hinzu: "Fragt Frau. Sie wird Euch sagen, Waffe gut für Eure Zukunft!"