Narenka starrte auf das dreckige Grau der Decke. Sie erinnerte sich, wie man sie hergebracht hatte, wie man sie auf die Liege geschnallt hatte. Und sie erinnerte sich, wie die Weißen etwas herbeigerufen hatten, eine Präsenz, wie Narenka sie nie zuvor wahrgenommen hatte - erschreckend, machtvoll, kalt. Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
Gerade erst war sie wieder zu Bewusstsein gekommen. Zu ihrer Verwirrung standen keine Weißen Männer um sie herum. Noch verwirrender war, dass sie nicht festgeschnallt war. Als sie ihren Kopf hob, stellte sie fest, dass die Gurte um ihren Bauch, ihre Arme und Beine zerschnitten waren.
Ein Blick nach links ließ sie erstarren. In der Wand klaffte ein riesiges Loch, und sie konnte die schwachen Lichter der Stadt im Zwielicht des späten Abends erkennen. Neben dem Loch lag die Gestalt eines Weißen Mannes, sein Oberkörper blutbesudelt, seine Kehle aufgeschnitten. Ein weiterer Weißer lag neben ihm, jemand hatte ihm den rechten Arm abgeschlagen.
Sie erschrak, als sie ein Stöhnen neben sich hörte. Ein Blick nach rechts offenbarte ihr die Quelle des Geräusches: Ein Halbling lag auf einer weiteren Liege neben ihr. Auch bei ihm waren die Gurte zerschnitten. Der junge Mann war offenbar gerade erwacht.
Der Kopfschmerz trieb Nomo fast in den Wahnsinn. Sie hatten ihn in die runde Halle gebracht, den Raum, in dem sie ihm regelmäßig seltsame Flüssigkeiten injizierten. Oft hatten die Schmerzen ihn fast in den Wahnsinn getrieben, wenn die brennenden Flüssigkeiten sich in seinem Körper verteilt hatten. Schlimmer aber waren meistens die fiebrigen Alpträume, die er danach hatte.
Doch dieses Mal war etwas anders gewesen. Eine junge Frau war bereits in dem Raum gewesen, und Nomo hatte eine furchterregende, dunkle Präsenz in ihr gespürt. Die Weißen Männer hatten ihr zuerst Blut abgezapft, dass sie ihm dann injiziert hatten. Die Alpträume, die er danach erlebt hatte, waren schrecklicher als alles, was er je zuvor durchgemacht hatte.
Dann fiel es ihm ein. Er hatte davon geträumt. In seinen Träumen hatte er die Weißen Männer sterben sehen. Nur schemenhaft hatte er die Krieger erkennen können, die über die Weißen hergefallen waren. Dann hatte sich der Traum verändert. Nomo stand mit zwei Frauen in der Halle, und ein magisches Auge erschien in ihrer Mitte. Der Halbling erinnerte sich nicht an die genauen Worte, doch er wusste, dass die Stimme eines Weißen ihnen vorwarf, die anderen Weißen ermordet zu haben. Und dass bereits jemand unterwegs war, um sie zu fangen und zu strafen.
Layana holte tief Luft, als sie vor der schweren eisernen Tür stand. Die runde Halle. Alle paar Tage erhielt sie den Auftrag, Essen hierher zu bringen, um Gefangene zu versorgen, die zu schwach waren, um sofort in ihre Zellen zurück zu kehren. Jedes Mal hoffte sie darauf, dass es tatsächlich nur ums Essen ging, denn hinter einem losen Stein in dieser Halle hatte sie ihre Ausrüstung verborgen. Sie hatte diesen Ort gewählt, weil diese Halle nur selten benutzt wurde, und es ganz in der Nähe eine Treppe gab, die direkt zu einem Ausgang führte.
Die Halle befand sich zwar im fünften Stock, doch es trieben sich nur selten Weiße auf den Gängen herum, und die Wendeltreppe wurde außer von ihr von niemandem genutzt. Es war, unter den gegebenen Bedingungen, das perfekte Versteck.
Sie raffte sich auf, und öffnete die schwere Tür. Konzentriert starrte sie auf den kleinen Essenswagen, den gelblichen Brei in den Holzschüsseln und das nicht allzu saubere Wasser in den hölzernen Krügen. Sie hatte sich angewöhnt, nicht hinzublicken, wenn sie den Raum betrat, denn allzu oft waren die Weißen noch nicht fertig mit ihren Experimenten.
Erst, als die Tür wieder hinter ihr zu fiel, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Ein Luftzug wehte durch ihre Haare. Sie blickte auf, und starrte auf das riesige Loch in der Wand, groß genug, dass sie mit ausgebreiteten Armen zwei Mal hinein gepasst hätte. Ihr Blick wanderte über die Leichen zweier Weißer Männer, dann über die zwei Gestalten auf den Liegen mitten in der Halle, die sich gerade aufrichteten.
Genau in diesem Moment erschien genau zwischen ihr und den beiden Insassen eine kleine, weiß leuchtende Kugel. Die Kugel verwandelte sich, nahm Gestalt an, und wurde zu einem einzelnen, schwebenden Augapfel, so groß wie ihre Faust. Das Auge blickte sich um, starrte auf die Leichen, dann auf Layana, dann auf die beiden Insassen.
FREVLER! ertönte eine laute, kaltherzige Stimme. Ihr werdet für diese Taten büßen. Ihr werdet eine Strafe erfahren, die schrecklicher sein wird als alles, was je ein Insasse des Sanatoriums erleiden musste. Wir werden an euch ein Exempel statuieren.