Niewinter,
24. Mirtul im Jahr des Kruges (1370 DR) Nieselregeln, kräftige Schauer, leichtes Tröpfeln, heftiges Pladdern. Das Wetter war die letzten Tage wirklich einfallsreich und hatte das Thema Regen in jeder erdenklichen Variation durchgespielt. Momentan fielen Tropfen jener Art vom Himmel, die kleine dauerhafte Bläschen auf der Oberfäche einer Pfütze zu bilden vermögen, und denen bisher niemand einen Namen gegeben hatte. Kaum zu glauben, dass 100 km weiter östlich tiefer Winter herrschte, wenn es stimmte, was angekommene Reisende erzählten. Schnee - den fand man nicht in Niewinter. Der Fluss, der aus dem verbotenen, möglicherweise magischen Wald kommend durch Niewinter floß, führte wie immer so viel Wärme mit sich, dass sogar Nachts noch 13°C herrschten. Eine sonderbare Laune der Natur.
„Schau nicht so dämlich!“ Gemeinsam mit einem alten Gaul betrachtete Kralle seine Züge, die sich auf der Wasseroberfläche des Troges im Hinterhof des Gefallenen Turms spiegelten. Ungeachtet der vielen kleinen Unebenheiten, die die Regentropfen auf der Wasseroberfläche verursachten, konnte er die Spuren, die die Ereignisse der letzten Monate in seinem Gesicht hinterlassen hatten, deutlich wahrnehmen. Er wagte nicht einmal im Ansatz, sich vorzustellen, wie seine Visage im blank polierten Stahl der Streitaxt Aariyahs aussehen mochte.
Er überlegte, wann ihn das Glück verlassen hatte. Dass er das Erbe seines Vaters in dieser verfluchten Spelunke verloren hatte, war eigentlich nur der Höhepunkt einer traurigen Serie von Misserfolgen. Was war nur in ihn gefahren? Warum hatte er damals in der Strahlenden Schlange so lange gezögert und sich dann doch für die falsche Augenzahl entschieden? Sicher, er war kein Profi was das Glücksspiel anging. Aber er war doch auch nicht so unerfahren, die Jahrhunderte alte Handwerkstradition seiner Familie bei einem einzigen Würfelwurf aufs Spiel zu setzen! Warum hatte er sich überhaupt auf das Spiel mit einem der Neune eingelassen? Wenn Kralle sich nachts von Vorwürfen gepeinigt auf seinem Lager herumwarf, träumte er, sein Vater werde sich aus seinem Grab erheben und sich zusammen mit seinen unzähligen Ahnen dafür rächen, dass ihre renommierte Werkstatt jetzt von diesem spielsüchtigen Vandalarius heruntergewirtschaftet wurde.
Verflixt, eigentlich hatte er doch mit diesem Thema abgeschlossen, sonst wäre er jetzt nicht hier! Er würde für lange Sicht nicht einmal annähernd genug Geld auftreiben können, um die Werkstatt von Vandalarius zurückzukaufen. Jedenfalls nicht auf legalem Wege.
Jetzt bückte sich Kralle über die Viehtränke dieses verdreckten Etablissements, und nichts hielt ihn mehr in dieser Stadt zurück! Kein Gewerbe, dem er nachgehen konnte, keine Familie und schon gar kein Weib. Selbst in besseren Zeiten hätte sich keine seiner schönen, aber meist hochnäsigen Kundinnen für ihn interessiert...
Immerhin waren ihm noch ein paar Freunde geblieben, die sich ebenso wie er für ein Abenteuer entschieden hatten, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Beweggründen heraus. Momentan sah es allerdings eher danach aus, als hätte er in seinem neuen Leben als Abenteurer genauso wenig Glück wie im Spiel und in der Liebe. Wann nur hatte ihn sein Glück verlassen und warum?
Mit diesen Gedanken tauchte er ein letztes Mal sein Gesicht in das kalte Becken, prustete herzhaft und blickte zu dem alten Klepper auf, der sein Maul direkt neben ihm in das kühle Nass getaucht hatte. „Wer bist denn du?“ murmelte er, gab dem Tier einen freundschaftlichen Klaps auf den knochigen Hals und kehrte zurück in den Schankraum an den Tisch, an dem seine neuen Gefährten bereits mit der nächsten Runde auf ihn warteten…
An eben diesem Tisch saßen vier junge Männer und eine Frau, die Barbarin Aariyah. Mit ein wenig Glück könnte für sie heute der letzte Tag ohne geldbringende Beschäftigung sein. Würde der Abend wie die vorangegangenen vier verlaufen, würden sie erneut auf dem günstigsten Strohbett, was Niewinter zu bieten hatte, aufwachen - leicht verkatert ob des billigen Bieres, ohne Arbeit und ein paar Kupfer Nibs weniger in den Taschen. Mit schrumpfender Fülle des Geldbeutels schienen sich die verbleibenden Münzen immer schneller aus dem Staub machen zu wollen. Unter Anbetracht ihrer finanziellen Mittel wäre die
nackte Tafel die passendere Lokalität, doch der
Gefallene Turm hatte sich in den letzten Jahren als einzige Anlaufstelle für Leute, die Arbeit zu vergeben haben, etabliert.
Zwischen den Anwesenden bestand, trotz unterschiedlichen Herkunft und Hintergründe, eine gute Freundschaft. Manche dieser dauerten schon mehrere Jahre, andere hatten sich erst kürzlich gebildet. In ihrer Vorstellung war das
an Land ziehen eines lukrativen Auftrags leichter gewesen. Doch jede angesprochene Reisegesellschaft aus Kaufleuten und Händlern hatte entweder keine Verwendung für weiteren Schutz oder lehnte, mit mangelnder Erfahrung begründend, eine Einstellung der Freunde ab.