Beim Ausbruch seiner Verlobten musste Milan schlucken. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er in vielerlei Hinsicht mit sich rang. Zum einen wusste er nicht, wie er allen beibringen sollte, dass er von seinem Vater enterbt worden, dass er nichts mehr weiter war als...ja, was eigentlich? Er hatte nichts gelernt, er hatte es zu nichts in seinem Leben gebracht und gäbe es nicht diese eine Aufgabe, welches Ziel hätte er verfolgen sollen? Zum anderen fand er es einfach beunruhigend, was innerhalb der Gruppe vor sich ging, wie sehr jeder einzelne litt und keiner sich die Zeit nahm, für die- oder denjenigen da zu sein. Andererseits war es doch grad die Zeit, die sie nicht hatten. Er hörte aufmerksam Lemars Worten zu. Auch sein Freund schien sich verändert zu haben. Er war noch nie so überlegt gewesen wie jetzt. Milan schwieg und als Lemar plötzlich aufstand und meinte, dass dafür später auch noch Zeit sei, fragte er sich, ob das nicht genau das Problem war. Ob es nicht besser war, jetzt und zu diesem Zeitpunkt einfach endlich alles los zu werden, mit allen Problemen aufzuräumen oder ehrlich zu sein.
Während er mit Eretria zur Bibliothek ging, war sein Blick leer, aber in seinem Inneren hatte Milan einen Entschluss gefasst. Noch vor kurzem war er der Ansicht gewesen, dass es keine Möglichkeit für ihn mehr gab, weiter der Anführer dieser Gruppe zu sein. Nun aber wuchs die Überzeugung in ihm, dass - auch wenn die Gruppe sich momentan ohnehin gegen ihn stellte - sie einen Anführer brauchte, der zumindest das Problem ihrer Einzelgängerschaft erkannte. Er hatte zwar noch keine Vorstellung davon, wie er all die Streitigkeiten umgehen sollte, doch er wusste eines ganz genau. Genug der Geheimniskrämereien! Als sie schließlich vor den Toren der Bibliothek standen, drehte er sich zu Eretria und ergriff ihre Hand. "Du brauchst keine Angst haben um mich. Ich habe nicht vor, dich einfach so zu verlassen, nicht durch einen Menschen, der die Kontrolle über sich selbst verloren hat und einem Wahn hinterher rennt. Denn das ist das alles. Wir rennen einer Vorstellung hinterher, von einem Leben, was mal war. Vielleicht sind wir von unserem Charakter her noch die, die wir damals waren, aber dieser Charakter steckt nicht mehr in denselben Körpern, wir leben in einer ganz anderen Zeit. Deshalb wirst du nicht Aliya werden und ich nicht Marushan. Und dieser Mann, der versucht hat, mich zu töten, wird auch verstehen, dass er nicht mehr der ist, der er vielleicht mal war. Vielleicht ist es genau das, was wir tun müssen. Vielleicht müssen wir uns einfach in unseren Träumen darüber bewusst werden, dass wir nur träumen, um nicht nach jedem Traum aufzuwachen und uns Vorwürfe zu machen, dass wir...dass ich...dass Marushan damals Aliya getötet hat. Ich weiß, dass ich dir das nie antun könnte."
Er legte die Arme um ihre Hüften und musste kurz schlucken. "Und dann ist da noch etwas, was ich dir sagen möchte. Ich habe vorhin von Karol erfahren, dass mein Vater mich nach meiner Abreise enterbt hat. Ich besitze nichts mehr. Ich bekomme kein Geld, keine Pferde, mir wird nichts mehr zur Verfügung gestellt. Dass wir noch im Haus wohnen dürfen, liegt allein daran, dass Karol beziehungsweise der Stellvertreter meines Vaters es nicht übers Herz gebracht hat, meiner Mutter die Wahrheit zu sagen. Ich habe die letzten Reste meines eigens erworbenen Goldes an Karol gegeben, um wenigstens etwas zum Proviant für die Gruppe beizutragen, aber das war es. Ich habe jetzt nichts mehr außer den Sachen, die ich auf dem Leib trage."
Er sah Eretria in die Augen, um sagen zu können, was sie nun von ihm dachte. Er wusste . er hoffte -, dass sie sich nichts aus seinem Vermögen machen würde, aber er hätte es ihr und den anderen einfach sofort erzählen sollen, aber dazu war er einfach zu stolz gewesen. Stolz. "Hör mal, Lemar hat Recht. Mika versucht ihr Bestes, um auf dich zuzugehen. Sie ist eben wirklich ein Vorschlaghammer. Du weißt, dass ich auch ständig mit ihr aneinander gerate, aber wir müssen versuchen, trotzdem so zusammen zu arbeiten, dass wir weiterhin eine Gruppe bleiben und nicht zu Einzelgängern mutieren. Ich glaube, dass sie ebenfalls kein sonderlich einfaches Leben hatte. Ich denke manchmal, dass sie versucht, das Beste zu machen, das, was sie für das Beste hält. Und vielleicht ist sie auch einfach sich selbst gegenüber unter einem gewissen Erwartungsdruck und will alles richtig machen. Außerdem ist vieles von dem, was sie sagt, doch richtig. Ich meine nicht in Bezug auf uns, aber in anderen Dingen schon. Und Arue, ich weiß nicht, Ajur hat da was sehr Seltsames von einer Verbindung geredet. Auch wenn sie sicher versteht, dass wir zusammen gehören, glaube ich, dass es sie sehr belastet und sie Angst vor diesem Etwas hat. Vielleicht genauso wie Beldin mit seinen Visionen." Milan zuckte kurz zusammen, als er den Namen des Elfen in den Mund nahm. "Naja, gut" - er grinste etwas schief - "mit ihm hast du dich ja auch nicht so gut vertragen." Er zwinkerte. "Wir sollten...wir sollten alle irgendwie...ruhiger werden. Entspannt trifft nicht, was ich ausdrücken will, ich meine nur..."
Er zuckte mit den Schultern. "Wahrscheinlich sollte ich einfach die Klappe halten. Ich denke nur, es wäre einfach besser, wenn uns klar werden würde, dass unsere Ängste uns begleiten auf dieser Mission und dass wir uns selbst nicht ablegen oder hintenan stellen können und dass wir verschiedene Menschen sind und..." Milan schüttelte ein wenig hilflos den Kopf. Kommunikation, jetzt wusste er, warum es das Lieblingswort seines Vaters gewesen war und warum er selbst definitiv nicht zum Händler taugte.