Der Viermaster ragt über den Mittelpunkt der Insel heraus, sodass er wie ein gestrandeter Schwertwal anmutet. Seine Segel hängen längst schlaff herab. Rhythmisch brandet das Meerwasser an sein inzwischen komplett freigelegtes Heckruder.
Die Insel ist anfangs kaum mehr als ein Vorsprung gewesen, als ragte eine Felsnadel aus den Tiefen empor. In zwei Stunden ist sie um ein vielfaches ihrer ursprünglichen Größe angewachsen und umfasst nunmehr etwa 16m².
Bislang ist kein Ende ihres Aufstiegs in Sicht, obwohl die See ruhig im Licht des Mondes schimmert. Keine Bugwellen oder ähnliches sind zu sehen. Nicht einmal Delphine lassen sich sehen.
Während Kapitän Harnaby an Deck lautstark seine Crew antreibt und sich Davis ein Seil umlegen lässt, forscht Senesta in ihrem Gedächtnis nach Informationen, die hilfreich sein könnten. All die Stunden in den Bibliotheken dürften nicht umsonst gewesen sein.
In der Tat hat sie schon viele Geschichten über gewaltige Meeresungeheuer gehört beziehungsweise gelesen, aber das meiste waren Ammenmärchen oder in Alkohol getränktes Seemannsgarn. Nichts davon entsprang irgendeiner wissenschaftlich gestützten Beobachtung. Ihre Kenntnis der marinen Fauna beläuft sich ebenfalls auf gleich Null. Natürlich weiß sie vom Leviathan, aber wer kann sich dessen nicht rühmen?
Dafür sind ihr seriöse Berichten über schwimmende Inseln, die überall in den südlichen Meeren auftauchen und dann wieder verschwinden, bekannt. Obwohl die Landmassen ganz unterschiedliche Vegetation aufweisen und keinen bestimmten Zeitintervallen zu folgen scheinen, hat ihres Wissens niemand ernsthaft in dieser Richtung geforscht. Es gibt einige Thesen, aber die divergieren weit in ihrem Inhalt. Es fehlen handfeste Fakten.
Der beste Anhaltspunkt ist ein Buch, dass sie vor langer Zeit las. Eigentlich befasste es sich mit dem Phänomen der "Untiere", aber es fanden auch andere bizarre Auswüchse der Natur Erwähnung. Der Autor, ein Gelehrter namens Euklithides, traf in einer Hafenstadt tief im Süden eine ganze Mannschaft von Hochseefischern, die allesamt glaubhaft beteuerten, auf einem Felsen geritten zu sein. Seltsamerweise schien dieser Felsen Wale zu jagen.
Irgendwann tauchte er einfach wieder unter und die Männer konnten heim.
In mehreren Dörfern entlang der Küste hörte er ähnliche Geschichten. Er kam zu dem Schluss, dass es sich um eine oder mehrere gewaltige Kreaturen handeln muss, die er als absurd angewachsene Tojanda identifiziert, wahrscheinlich beschworen von einer anderen Existenzebene. Ob das nicht ein sehr voreiliger Schluss ist, bleibt fraglich.
Aufgeregt bemerkt Senesta, dass sie damit die erste Scholarin ist, die jenes seltsame Phänomen vor Ort erforschen kann.
Einigermaßen elegant kommt neben ihr Davis die Treppe herunter, umgürtet mit einem festen Seil. Die Crew der Santy Ano sieht ihm hinterher, als wäre es das letzte Mal. Die meisten erwarten, nur noch Gebein aus dem Meer zu ziehen.
Harnaby steht auf der Reling und blickt mit verschränkten Armen herab zu seinen Passagieren.
"Viel Glück da unten!", sagt er. Seine Stimme klingt längst nicht so selbstsicher wie sein Auftreten. Auch er spürt die Spannung, die sich seit mehr als zwei Stunden aufbaut.
Als Davis das Wasser berührt, zuckt er zurück. Es ist recht angenehm, aber auf Dauer mit Sicherheit äußerst kalt. Erschwerend kommt hinzu, dass er nicht weiß, wie lang er die Luft anhalten kann und muss. Auch seine Allgemeinbildung gibt ihm keine Auskunft.
Immerhin fällt ihm die Melodie zum "Fliegenden Oranier" ein.