“Das musst du selbst herausfinden, Eohaa. Trägst du wirklich den Samen des Göttlichen in dir, wirst du unsere Gesetze erkennen und achten, so wie wir dich achten.
Halte Augen und Geist offen und du wirst viel lernen können. Erwarte jedoch nicht, dass dich jeder willkommen heißen wird. Du bist eine Bewohnerin der Oberfläche, erwacht oder nicht.
Bitte versteh, dass wir nur selten Gäste haben und von den Weichhäuten meit nur Respekt- und Rücksichtslosigkeit erfahren. Manche, wie Harnaby, müssen wir bestrafen. Sie achten weder das Leben noch das, was sie umgibt.”
Der Fischmensch scheint verärgert. Seine Kopfflossen haben sich aufgestellt und verfärben sie langsam rot.
Hinter Shadi entsteht Bewegung. Blickt sie sich um, sieht sie sich von oben eine weitere Gruppe Locatha nähern.
Manche tragen gewundene Muschelhörner, andere ziehen große, bauchige Trommeln an Tangseilen hinter sich her. Der Anblick ist fremdartig und schön zugleich.
Hinter ihnen schimmert das Sonnenlicht und das weite Blau des Ozeans. Zwar wird es dunkler, aber noch reicht das Licht aus, um in der Tiefe etwas erkennen zu können. Trotzdem dürfte in der Stadt ständiger Abend herrschen.
Sie weiß langsam nicht mehr, wie lange sie schon schwimmt. Selbst Atuin ist inzwischen komplett für sie erfassbar. Endlich erkennt sie, worum es sich wirklich handelt. Wenn das die Gestrandeten wüssten!
Verzaubert, von Erschöpfung geplagt und durchgefroren zugleich taucht sie weiter. Die Locatha reiben sich immer wieder an sie, was zwar befremdlich, aber wärmend wirkt. Inzwischen muss sie mehr oder weniger komplett gezogen werden.
So bemerkt sie erst nicht, dass sie Uuhicath erreicht haben.
Neben ihr ragt ein Turm aus Korallen auf, geformt wie eine Termitenkolonie ihrer Heimat, nur schmaler und mit größeren, beulengleichen Ausbuchtungen.
Unter ihr erstreckt sich ein wimmelndes Panorama. Überall schwimmen Fischkreaturen. Viele reiten auf Pferden mit Flossen statt Hufen und einem geschuppten Schwanz statt einem Unterleib. Allerorten lassen sie sich in großen Sänften von riesigen Fischen herumtragen, aus deren Köpfen sich Hörner gleich denen eines Ziegenbocks winden. Sie sieht sogar einen Kraken wie aus der Legende, gehüllt in einen glänzenden Stahlharnisch und mit Kolonnen von Dornen an jedem Arm.
Die Behausungen der Locatha ähneln natürlichen Gebilden, nicht unähnlich den Anemonen auf Atuins Rücken. Sie sind meist rund und unregelmäßig geformt. Einige bilden zusammen ein größeres, höher aufragendes Gebilde. Sie erinnern an Bienenstöcke.
Es gibt nur wenig Pflanzen. Die meisten wachsen entweder aus den Häusern oder wurden offensichtlich kultiviert. Lange, in den Gezeiten des Meeres wogende Gräser bilden so etwas wie Vorhänge zu den zahlreichen, runden Eingängen.
Komischerweise scheinen sich viele dieser Eintrittslöcher unterhalb einer Ausbuchtung zu befinden, sodass sich die Locatha von unten annähern oder sie umständlich umschwimmen müssen.
Größtes Gebäude ist ein wie ein Seestern geformter Komplex, auf dem Unmengen glitzender Kristalle wachsen, jeder an die zwei Meter oder höher. Sie spenden den sanften, bläulichen Schein, der die scheinbar chaotische Stadt erhellt.
Es gibt weder Plätze noch Straßen noch erkennbare Viertel. Alles ballt sich zu einer dichten Masse von Leben zusammen.
“Willkommen in Uuhicath, Eohaa!
Willst du nun Zeuge dessen werden, was dem Tangfuß, den ihr Harnaby nennt, widerfahren wird?”
*
Finchu weiß nicht, wie lange er schon durch das Gebäude geführt wird. Er hört es überall gluckern und plätschern. Nicht ein einziges mal berühren seine Füße trockenen Boden. Längst sind seine Haare von der unablässig tropfenden Decke durchnässt.
Er hört viele andere Lebewesen, aber keines davon scheint menschlich zu sein.
Manche blubbern und gurgeln eher, während andere heisere, zischende Laute von sich geben. Einige klicken, pfeifen und trompeten, als wären sie kleine Ein-Mann-Orchester. Nur sehr wenige Stimmen gleichen auch nur ansatzweise denen, die er von Landbewohnern gewöhnt ist.
Irgendwann spürt er eine Hand, die ihn zum Anhalten drängt. Eine weitere zieht das Tuch von seinen Augen. Zurück bleibt ein schleimiger Film wie von Rotz.
Es ist fraglich, ob er den Fischgeruch je wieder aus der Nase kriegen wird.
Als er sich über die Augen wischt und sich umschaut, präsentiert sich ihm ein kahler, langweiliger Raum. Interessant ist das Loch im Boden. Es führt direkt zum Ozean.
Finchu starrt herab in eine Schlucht, so gewaltig, dass er ihre Ränder kaum erkennen kann. Die Schwärze scheint ihn förmlich aufsaugen zu wollen. Die Tiefe scheint ihn fast physisch anzuziehen, als würde sie nur durch ihren Anblick an ihm zerren.
Er muss mit sich ringen, um sich nicht ins Wasser in ihre kalte Umarmung zu stürzen
[1].