Es schmerzt, den Verband abzunehmen, provisorisch wie er sein mag. Über die lange Reise hat er ihm gute Dienste geleistet, obwohl er dem Wasser – und damit dem Schmerz – kaum Widerstand bot. Sein Aufprall auf dem Steinboden klingt, als würde ein völlig durchtränktes Laken aus mehreren Metern Höhe fallen gelassen. Er sieht äußerst unappetitlich aus, kaum besser als der Mageninhalt eines Ogers.
Zwar kann Cyparus seine Wunden nicht sehen, aber betasten. Ihre Ränder sind ausgefranst, als habe sie ein grausamer Folterknecht Tag für Tag aufs Neue aufgeschnitten. Die Haut rundherum fühlt sich fast schleimig an, so weich wie der große Schwamm, der das Zimmer dominiert. Der Rest seines Körpers fühlt sich kalt wie eine Leiche an, nahezu jeder Wärme beraubt und starr. Obwohl seine Haut feucht glänzt und eine Unzahl kleiner Rinnsale an ihm herablaufen, ist sie trocken wie die Verbrannten Lande. Darunter spürt er verhärtete Muskeln. Von der Geschmeidigkeit, mit der er seine Reise begonnen hat, ist nicht viel geblieben.
Hinter sich hört er Shadi den Kopf aus dem Wasser heben und reicht ihr sofort galant die Hand. Sie zittert am ganzen Leib, ist teilweise sogar blau angelaufen. Ihr Heiliges Symbol, geschnitzt aus dem Holz der starken Steppenbäume, ist weder aufgequollen noch angekratzt und damit das Einzige, was an ihr unversehrt geblieben ist. Ihr Griff ist schwach, ein Zeugnis der tiefen Erschöpfung, die sich auch seiner bemächtigt hat.
Die Luftblase um ihren Kopf platzt geräuschlos. Dankbar saugt sie die noch unverbrauchte Atemluft ein, als erhabe sie soeben die höchste Ehrung ihres Kults erhalten. Sich tagelang wie in einem uralten Kellergewölbe zu fühlen, unterstützt die Erholung nicht sonderlich.
Es kostet Cyparus einige Anstrengung, ihr aus dem Wasser zu helfen. Dankbar nickt sie ihm zu. In ihren Augen ruht eine tiefe Trauer, aber auch Kraft und Entschlossenheit. So verletzlich sie wirken mag, völlig durchnässt und halb erfroren, schlummert in ihr doch ein enormer Überlebenswille.
Ihr Armstumpf ist ebenso unzureichend abgeheilt wie seine eigenen Wunden. Wenn beide nicht achtgeben, könnten sich ihre Verletzungen entzünden. Über die letzten Tage haben Shadis Gebete für Linderung gesorgt, aber nicht dauerhafte Abhilfe. Wegen des Arms werden sie mit entweder den Locatha oder Tritonen sprechen müssen, im Notfall auch mit einem Drachen, so absurd der Gedanke auch klingen mag.
Jeder Mensch weiß um die Macht, über die die Geschlechter der Drachen gebieten. Sie sind ebenso fremd und unerreichbar wie die Elfen, die vor 10.000 Jahren untergingen. Einen von ihnen um etwas zu bitten ist dreist genug, dies ohne Geschenk oder Gegenleistung zu tun wahnwitzig. Sie stünden für den Rest ihres Lebens in seiner Schuld, ebenso wie alle möglichen Nachkommen.
Von hilfreichen Tritonen war auf Qioaahs Straßen nichts zu sehen. Selbst, wenn sie helfen könnten, müssten sie erst einmal anwesend sein.
Von all dem sprechen die beiden Menschen nicht. Die Klerikerin lässt sich wortlos zum Essen nieder. Cyparus wäscht derweil seine Wunden aus, soweit es ihm möglich ist. Sie fühlen sich beunruhigend warm an. Eine Entzündung scheint nicht eingetreten zu sein, wahrscheinlich dank des Salzes, das ihm in den langen Stunden ihrer Flucht unablässig Schmerzen bereitet hat. Es aus den Wunden waschen zu können ist eine elysische Wohltat. Dass es dabei eines der beiden Süßwasserbecken mit seinem Blut ungenießbar macht, ist dabei zweitrangig.
Shadi isst bereits mit sichtlichem Genuss, als er sich zu ihr gesellt. Der Steinboden ist inzwischen nahezu komplett durch die Nässe verdunkelt, die sie eingeschleppt haben. Langsam, aber sicher trocknen ihre Leiber. Es ist ein glorreiches Gefühl, endlich wieder Luft auf der Haut zu spüren, nicht schwerelos zu sein, sondern ganz normal zu stehen, sitzen, liegen. Das Gewicht ist wieder richtig verlagert und oben und unten, wo sie hingehören. Vor allem aber drückt kein Sattel die Beine unablässig auseinander. Kein Wunder, dass die Reitervölker der Drachenlande so säbelbeinig wie Goblins laufen.
Leider hat sich an der Rohkost nichts geändert. Unter den Wellen ist es denkbar schwierig, ein Feuer zu entzünden. Dementsprechend mäßig fiel die letzten Tage der Genuss aus. Die für sie bereitgestellte Auswahl erinnert angenehm an den Komfort, den sie in Uuhicath für kurze Zeit genießen durften. Es gibt kandierte Seesterne, Babyoktopi in grünlicher Marinade, rohe Muscheln, in Algen eingerollte Fischfilets, bunte Salate und Streifen von Seesternfleisch. Nicht vergleichbar mit der reichhaltigen Kost der Heimatlande, aber durchaus sättigend.
Obschon es nicht sonderlich warm in dem Raum ist, erscheint er im Vergleich zum Ozean wie der Nexuspalast zu einer verwahrlosten Hütte in irgendeinem zaromuthischen Elendsviertel. Einfach seine Ruhe zu haben scheint bereits wie ein unvergleichlicher Luxus.
Shadi isst mit nur einer Hand, mühevoll und zittrig. Dennoch scheint sie jeder Bissen zu kräftigen. Sie trinkt das kostbare Süßwasser in tiefen Zügen, erschauert leicht und legt sich auf den Schwamm, um dort Ruhe zu finden. Sie versinkt fast darin, als er unter ihrem Gewicht nachgibt und sich langsam ihrer Form anpasst.
„Gute Nacht!“, bringt sie noch hervor, dann senkt sich der Schlaf auf ihre Lider.
Cyparus bleibt nicht viel übrig als etwas zu essen, gewissen Grundbedürfnissen des Menschen nachzugehen und sich auf die andere Hälfte des großen Schwamms zu legen. Wie in Uuhicath ist es eine Wohltat, deutlich bequemer als die Pritsche im Kloster, von den Gassen der Städte ganz zu schweigen. Doch weckt es ebenso Erinnerungen wie den Wunsch nach Schlaf. Auch in Uuhicath fühlte er sich sicher, bevor er sich zur Ruh legte. Dann brach die Hölle über die Stadt ein.
Er liegt eine Weile wach, betrachtet die Decke und versucht, sein Inneres zu ordnen. Draußen erschallen seit einiger Zeit Rufe, die von ganzen Chören Empörter beantwortet werden. Die Muschelhörner erschallen ein paar Mal, ohne Shadi wecken zu können. Vor dem Felsen erklingt regelmäßig das Schnauben der Hililoq. Es hört sich ganz danach an, als wären die Kriegsvorbereitungen im vollen Gange.
Wohin er auch kommt, das Leid folgt dem Mönch wie seinem Gott. Es mag Hybris sein, diesen Vergleich zu ziehen, dennoch scheint er treffend. Er lädt gleich seinem Patron fremde Last auf sich, nicht getrieben von Notwendigkeit, sondern einer strengen, gerechten Ethik. Die Mächte scheinen sich zu wünschen, dass er zum Ende der Welt gelangt. Phieran weiß, was ihn dort erwarten mag.
Irgendwann leert sich sein Kopf. Er ergibt sich dem Reich der Träume, das ihn durch eine tiefe, warme Dunkelheit schweben lässt
[1].
Seine Nachtruhe wird durch eine Art weit entfernten und doch imponierenden Gesang gestört. Erst hört er ihn im Traum, wo er sich als Chor blinder Alter manifestiert. Dann folgt er ihm zurück zum wachen Bewusstsein. Es fällt schwer, die Lider zu öffnen und sich des Schlafskomforts zu entledigen. Dennoch scheint es irgendwie nötig, das zu tun, als verpasse er sonst etwas Wichtiges.
Der Gesang scheint fern und seltsam dissonant, unmenschlichen Ursprungs und bar jedweder musikalischen Untermalung. Sein Rhythmus erinnert an religiöse Lobgesänge. Könnte Cyparus auch nur ein einziges Wort herausfiltern, wäre wenigstens geklärt, ob ihn die Locatha intonieren. Es hört sich nicht danach an.
In den Heimatlanden schallen unentwegt Lobpreisungen an die Götter, sowohl tagsüber als auch zu Nachtes Stund. Unter den Locatha hat er während seines Aufenthalts in Uuhicath nichts dergleichen erlebt. Dort erscholl jede Stimme gedämpft. Niemand schrie, niemand sang. Es hätte unter den Wellen keinen Sinn gemacht. In Qioaah scheint es nichts anders.
Einzig dieser fremde Gesang stört die Ruhe. Er klingt, als schmettere ihn ein ganzer Chor. Seltsamerweise schafft es Shadi, trotz seiner unablässigen Klagen weiterzuschlafen.