"Ja, die Gesetze, die Gesetze. Siehst du, manche von euch sind Barbaren, andere auch nicht. Auf manche trifft das Gesetz zu, auf andere nicht. Aber les selbst. Hier habe ich dir das Wichtigste zusammengestellt."
Von der Notwendigkeit der Gesetze:
In Chuang laufen die Sand- und Wasseruhren ein wenig anders, als in den meisten Ländern, Reichen und Gegenden dieser Welt. Es ist eine andere Herangehensweise, welche viele Fremdländer zuerst verblüfft dreinschauen lässt. Obwohl der Kaiser der Mittler zwischen der Welt der Sterblichen (der Erde/Enwe) und der Welt der Götter ist, sind die Gesetze nichts von den Göttern Gegebenes, sondern etwas rein irdisches, welches auch von den Lebewesen der Enwe bestritten werden muss. Dieses Obwohl ist auch nur ein vermeintliches, denn es müsste richtig heißen, dass gerade deshalb, weil der Kaiser der Vermittler ist, sind die Wesen dazu angehalten, selbst ein Gesetz für ihr Zusammenleben zu schaffen. Was auf viele, gerade fanatisch religiöse Personen, merkwürdig klingen mag, hat einen praktischen Hintergrund. Da die Götter, nach dem Glauben in Chuang, niemals selbst direkt in das Leben der Bewohner eingreifen (Was auch die Position des Mittlers obsolet werden lassen würde), gab es schon früh im Reich die Bestrebungen, die Gesellschaft an der Entwicklung von Gesetzen zu beteiligen. Denn Gesetze sind nicht so zu verstehen, wie sie in vielen anderen Gegenden verstanden werden. Zwar hat der Kaiser das letzte Wort in der Gesetzgebung, und dies zum Teil sicherlich auch, weil er göttlich legitimiert ist, aber er tut dies als geistiger Vater (wichtige Formulierung!) und weltlicher Vertreter seines Volkes, dennoch hat die Gesellschaft in ihrem Kern ein Mitbestimmungsrecht. Das liegt in der zweigeteilten Weltsicht der Chuang.
Man stelle sich einen Sonnenball vor, welcher das verheißungsvolle Paradies der Zivilisation ist, um diesen Ball der Zivilisation, der in seiner Mitte (der Kaiser) am hellsten leuchtet und an den Rändern langsam ausbleicht, schweben auf unterschiedlichen Höhen unterschiedliche dunkle und leicht beschienene oder nur noch schemenhaft erkennbare geometrische Formen herum. Das ist die Vorstellung von der Welt. Der Ball ist die Zivilisation und alles darum herum ist vielleicht bewohnt und kennt vielleicht Teile von ihr (weil sie von der wahren Zivilisation beschienen werden), dennoch sind sie nur flackerhafte Abbilder und diese Abbilder und die Leere zwischen ihnen bezeichnet die Barbarei, das Ungebildete, das Stumpfe, das Zurückgebliebene.
Und da diese Barbaren nicht genügend Bildung, und damit nicht genügend Ästhetik, genügend Verstand und in dem Zusammenwirken aller Teile nicht genügend Vernunft besitzen, müssen sie mit Gesetzen, wenn sie in die Zivilisation eindringen, gezähmt, gezüchtigt, bestraft und erzogen werden. Und deswegen haben die Männer und Frauen von Chuang die Gesetze erfunden.
Wie das Leben in der Zivilisation geordnet ist:
Da die Gesetze nur für Barbaren gelten, könnte das Gefühl entstehen, dass es eine absolute Freiheit für jeden gäbe, der sich innerhalb dieser Zivilisation befindet, das ist jedoch nur bedingt gültig, denn die Zivilisation hat ihren Preis, ihre Forderungen und ihre Pflichten. Um zur Zivilisation, dem höchsten Gut innerhalb Chuangs, zu gehören, muss man sich ihren Verhaltensanforderungen entsprechend gebaren. Jeder, der aus diesem Raster fällt, wird zu einem Barbaren und fällt somit unter das Gesetz, welches ihn wie einen Barbaren bestraft, zähmt, züchtigt und - so hofft der Kaiserhof - erzieht.
Dieser Verhaltenskodex umfasst mehrere Dinge, welche stets zu beachten sind.
Angeführt wird dieser Verhaltenskodex (genannt Sìdé (Tugend entfalten)) von der Etikette und den Benimmregeln. Das berühmteste und wohl wichtigste Beispiel ist der Kotau. Dieses Zeichen der Ehrerbietung, vor allem vor Ranghöheren, verlangt vom Grüßenden das zu Boden werfen und das Berühren des Bodens mit der Stirn. (Sollte man die außerordentliche Ehre haben, den Kaiser zu treffen, ist selbiges dreimal zu vollführen)
Solcherlei Verhaltenskodizes spielen eine enorme Rolle, sowohl im Alltag als auch bei besonderen Angelegenheiten und Respekt ist dabei, gerade im Umgang mit den Behörden, von außerordentlicher Bedeutung. Da das System auch meritokratische Anteile hat und viele Beamte ihren Status also verdient haben, neigen sie zu unglaublicher Unfreundlichkeit, wenn man diese Formen der Ehrerbietung einfach unterlässt.
Höflichkeit ist die nächste Notwendigkeit im Verhalten einer zivilisierten Person, denn wildes Auftreten zeugt davon, dass man eben jene Wildheit und seine Triebe nicht ordentlich im Griff hat. Da Höflichkeit aber Erziehung voraussetzt, wird hieran oft der Stand der Familie bemessen. Ein unhöflicher Narr in der Familie kann dem Ruf einer ganzen Familie schaden. Sie, die Höflichkeit, ist also nicht nur Tugend, sondern auch Maß der Zivilisation.
Nächstenliebe umfasste in den alten Tagen, damals noch Menschenliebe genannt, die Liebe und Fürsorge für andere Menschen, ob Hunger, Durst, Einsamkeit nun der Grund für die Sorge des Nächsten war. Heute ist dieser Begriff ausgedehnt auf die meisten Bestandteile des Reiches. Hier spalten sich auch am ehesten die Geister und viele hochbegabte und zivilisierte Männer fallen zurück in die Barbarei, um ihrem Rassismus Ausdruck zu verleihen.
Ahnenpflege bedeutet nicht nur, die Toten zu Ehren, sondern auch seinen Eltern gehorsam zu sein (entspricht der Kindespietät bei Konfuzius). So erlangt man nicht nur die Fürsorge für die Jungen, sondern auch die Fürsorge für die Alten, für die Gräberfelder der Verstorbenen und letztendlich lässt sich mit diesem fest verwurzelten Glauben auch das System verstehen. Denn so wie der Sohn seinen Vater verehrt, verehrt der Vater den Seinen in der Linie der Verwandschaft, aber im Sinne des Reiches ist der Vater der Sohn des Kaisers und so schuldet er diesem Respekt und Gehorsam, denn der Kaiser ist der Vater des Reiches. Und ebenso schuldet der Kaiser den Göttern Gehorsam, denn sie haben das Menschengeschlecht erschaffen. Und so sind die Götter auch noch Ahnen des einfachen Sohnes, welcher mit den Göttern so viel zu tun hat, wie mit seinen gestorbenen Vorfahren, aber dennoch schuldet er ihnen Ehrerbietung und Gehorsam. Und so gehört ein ausgeprägter Opferkult, sowohl für die Ahnen als auch die Götter, mit zum Leben eines jeden Zivilisierten. (Steuern zu zahlen ist also kein Akt des Gesetzes, sondern Gehorsamspflicht gegenüber dem Kaiser)
Kunst ist in Chuang eine Tugend und zwar Kunst in ihrem weitesten Begriffe. Kunst als Technik, Kunst als Schaffendes. Handwerkskunst, Dichtkunst, Liedkunst oder Malkunst, sie alle sind gleichberechtigt und zeigen vor allem den Wunsch und den Willen Perfektion zu erreichen und sich über das Triebhafte hinwegzusetzen. Kunst ist die höchste Ausformung der Kultur und so ist diese Kunstversessenheit ein Teil der Kultur der Chuang geworden. Jeder Mann, jede Frau strebt danach, irgendwas in ihrem Leben zu perfektionieren. Sei es das Malen eines Landschaftsbildes, sei es die Beherrschung des eigenen Körpers, der eigene Geist oder das Schmieden eines Schwertes.
Rechtschaffenheit ist ebenso ein Idealbild und umfasst alles, was dafür sorgen soll, dass ein Gesetz im eigentlichen Sinne nicht notwendig ist. Es ist das Verständnis für Moral; die Fähigkeit zu wissen, wann die eigenen Freiheiten aufhören, gerade wenn ich andere in ihrer Freiheit einschränke. Es ist das Wissen, dass Schmerz verhindert werden muss, wenn er unnötig ist. Und es ist ebenso der Wille, zu verhindern, dass die Zivilisation der Barbarei anheim fällt.
Daraus setzt sich der Kodex in seinen Hauptelementen zusammen und danach lebt man in Chuang...
Das Ordnungswesen:
...oder man endet in den Armen eines Ordnungsmannes, welcher ein Schutzmann und eine Art Polizist sein kann. Gesetzesbrüche werden von ihnen geahndet und solche Vergehen, welche der Barbarei gleichen, dann vor Provinzgerichten verhandelt. Der Strafenkatalog kann unterschiedlichste Formen annehmen. In der Regel steht für kleinere Vergehen eine Schlagstrafe mit dem Rohrstock (Hände, bekleidetes Gesäß, nacktes Gesäß) und für größere Vergehen stehen dann auch Zuchthaus (Gefängnis im neuzeitlichen Sinne ist eher ungewöhnlich), Exil oder Tod. Ergänzt werden diese Strafen durch Geldstrafen an das Gericht oder zum Teil an den Geschädigten. Da Gerichtsverfahren, sollte man nicht auf frischer Tat ertappt worden sein, man muss die Untersuchungen also erst noch initiieren, äußert teuer sind, werden viele Streitfälle innerhalb der betroffenden Personen geschlichtet.
Aber es muss abschließend erwähnt werden, dass Rache ein probates und erlaubtes Mittel ist, für welches es eine moralische Verpflichtung gibt (Familienfaktor). Wenn man sich an den Barbaren rächt, ist es besonders gern gesehen. Sollte der Racheakt innerhalb der Zivilisation stattfinden - gleichwohl sei an dieser Stelle angemerkt, dass jener, welche den Racheakt verschuldet hat, in der Regel nicht mehr Teil der Zivilisation ist, weil er gegen die Verhaltenskodizies verstoßen hat - wird meist auf eine Schlichtung des Streits abgezielt, um die Familie des Delinquenten zu schützen, da das Recht der Sippenhaftung geltend gemacht werden kann, gerade wenn es um Ehre und die Kardinaltugenden von Chuang geht. Vielfach müssen die Familien des Delinquenten auf zivilisierte Art und Weise für das Verbrechen ihres Mitgliedes bluten.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass es natürlich ein Gesetzsystem gibt, welches aber leicht verschoben ist, sodass die zivilisierte Bevölkerung in Chuang so wirkt, als sei sie von den Gesetzen befreit. Allerdings ist der Rahmen der Zivilisation sehr eng gespannt, sodass man letztendlich feststellen muss, dass das Gesetz doch fast allgemeingültig ist (Jedoch eine andere Note erhält, eine Belobigung und das Gefühl durch seine Bildung, Erziehung und Kultur über dem Gesetz zu stehen), nur der Kaiser steht faktisch wirklich über dem Gesetz, aber nur faktisch, denn er ist das Sinnbild der Kultur und der Zivilisation und da die Rechtschaffenheit einen Mann (und eine Frau) aus Chuang dazu ermunternd, ja gar zwingt, das Land vor der Barbarei zu bewahren, kann man sich die Folge ausmalen, sollte es dazu kommen, dass der Kaiser selbst ein Barbar sein sollte.