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Autor Thema: Das liederliche Spiel  (Gelesen 86150 mal)

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Sūn Ai

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Das liederliche Spiel
« Antwort #270 am: 20.06.2011, 10:38:48 »
Sūn Ais Bemühungen endeten schneller als es ihr lieb war. Einerseits konnte sie Makos Verhalten verstehen, andererseits hatte sie vermutet, dass der Musiker zu mehr Empathie fähig war. Sie selbst zumindest hat mit solch einer Reaktion des Jungen gerechnet, als sie Makos Worte vernahm. Ii Tsuyoshi würde ihnen wohl nicht mehr so schnell helfen und durch der Enttäuschung von Mako, brachte es ihr auch nichts zumindest neutral in seinem Gedächtnis verblieben zu sein. Trotz ihrer neuen Bemühungen war sie nicht war sie nicht wirklich weiter und so musste sie mit einem gewissen Gefühl der Trauer und erneut aufkeimenden Hilflosigkeit ins Bett gehen.

Die junge Frau wachte an diesem Morgen recht früh auf. Es war fast Glück, da an jenem Tag auch das Wasser der Zuber gewechselt wurde. Ein Glück das sie allerdings nicht richtig zu nutzen vermochte. Die Scham, der Misstrauen mancher ihrer Mitgefangen gegenüber und nicht genügend Schutz vor einem einfachen Versehen hielten Ai schnell genug ab ein Bad an dem morgen zu nehmen. Stattdessen wusch sie sich nur kurz und nutze das warme Wasser vor allem um ihr Gesicht zu erfrischen und ihre Haare zu waschen.

Den General des Westens empfing sie gebührend mit dem Kotau. Ihr noch nasses Haar, welches noch offen war, um besser zu trocknen, hielt sie sich dabei mit einer Hand fest, damit es nicht auf den Boden fiel.
"Seid gegrüßt Herr." Begrüßt sie Chuang Diyan mit freundlicher Stimme. "Wir sind von Außen gesehen wahrlich kein homogener Haufen. Sichtlich geplant, wie es bereits der werte Herr Lu berichtet. Denn es Menschen gibt, die den Plan verfolgen, dass wir uns hier drinnen gegen einander ausspielen, um unser eigenes Leben zu schonen. Andererseits weisen wir gerade deswegen auch Ähnlichkeiten auf und sind hier drinnen wohl homogener als wenn man uns draußen begegnet wäre."

Menthir

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Das liederliche Spiel
« Antwort #271 am: 20.06.2011, 10:57:00 »
05.01.1042 - Tag des Pandas - Früher Morgen

Der Kaisersohn hob beschwichtigend die Hand, als Lu sich anschickte sich zu entschuldigen. "Keine Sorge, ich nehme euch sowas nicht übel. Kränken würdet ihr mich, würdet ihr auf meiner Ehre herumtrampeln oder mich hier und jetzt angreifen. Wütend machen würdet ihr mich nur, wenn ihr, in Wonne verstrickt, mir erzählt, wie ihr meinen Vater töten konntet. Ich habe ihn selten gesehen und noch weniger von ihm gelernt, aber er bleibt mein Blut. Aber ansonten gilt wie immer, dass das Leben eine Krankheit ist, deren Ausgang stets tödlich ist." Der Kaiser ließ sich ein Zwinkern abluchsen. "Ich bin froh darüber, wenn man auf schwierige Situationen mit einem Lächeln reagieren kann und es so erträgt. Das zeugt von mehr Stärke als der rasende Barbar hat, der mit geschorenem Haupt und breiter Stirn versucht die Mauern dieses Gefängnisses einzureißen, so massiv seine Muskelberge auch sein mögen. Dennoch soll man an Missständen natürlich etwas ändern, nicht nur ertragen. Aber das Ertragen ist eine wichtige Eigenschaft. Sie bewahrt einem die Ruhe und denn durchblickt, Dinge überhaupt dauerhaft ändern zu können."
Dennoch wurde sein Gesicht wieder ernst, als Lu dazu überleitete, dass man einen der Denunzianten an das Blutgerüst bringen wollte.
"Es gibt wirres Getuschel darüber, so habe ich vernommen, da keiner einzuschätzen weiß, ob dies wirklich eine Sündenbocksuche ist, ob es wirklich einen Schuldigen gibt oder ob es gar Sündenböcke oder Schuldige gibt. Wenn keiner von euch gefunden werden würde, gefunden in dem Sinne, dass er schuldig ist, werdet ihr alle hängen. Aber daraus lässt sich kaum erkennen, ob man nur Sündenbocke sucht oder nicht. Es kann auch die Gewissheit mitschwingen, dass es einer von euch ist, auch wenn dies natürlich ein Anzeichen höchster Verzweiflung wäre. Das ist zusätzlich schwer zu greifen, weil manche behaupten, dass solche Verzweiflung dadurch zustande käme, weil dieses Reich nur eine Philosophie kenne, andere meinen das liege am Pluralismus der Philosophie, ist Chuang doch ein Vielvölkerreich. Andere meinen, es läge vor allem daran, dass das Kaiserhaus an Inzucht kranke, andere wiederum wollen das widerlegen, indem sie behaupten, dass wir alle Kinder unterschiedlicher Konkubinen wären und deswegen auch keine Eintracht kennen könnten."
Noch immer hielt er sich umständlich auf den Beinen, seine Oberschenkel mussten wahnsinnig wund gewesen sein. Und dennoch ließ er sich in seinen Erklärungen Zeit und gab ihnen die notwendigen Details. Der General war augenscheinlich ein sehr leidensfähiger Mann.

"Dabei ist unsere Philosophie schon so widersprüchlich, wie die Welt selbst bisweilen zu sein scheint. Alle jene, welche sich auf Kung Fu Tse berufen, vergessen allzu leicht, dass er wahrscheinlich nicht einen Satz seiner Lehre selbst verfasst hat und sich seine Lehre zudem in vielen Punkten widerspricht. Etwas, was augenscheinlich darin bedingt liegt, dass seine Schüler und die Schülersschüler die Philosophie geprägt haben und mehrere hundert Jahre später diese Tradition neu aufgelegt wurde und neue Sinnsprüche dazu gekommen sind. Kurz gesagt: Jeder, der Macht- und Moralansprüche zu legitimieren hatte, hat sich der Wirkgewalt des Kung Fu Tse bedient, um ihn den eigenen Zielen und Motiven Untertan zu machen. Da liegt die Gefahr vieler Zitate. Ja, es ist so, dass jeder, der sich selbst ein Weiser in diesen Landen schimpft, mit prunkvollen Zitaten zu glänzen weiß, dabei ist es gefährlich, sie außerhalb ihres Ursprunges zu nutzen, sie aus ihrem Zusammenhang zu reißen. So werden weise Worte häufig missbraucht und die Männer beweisen, dass ihnen keine Weisheit eigen ist. Aber gut, ich will euch nicht mit der Theorie des Missbrauchs quälen, denn ich denke, dass ihr verstanden habt, was ich damit andeuten möchte." Er wiederholte die beschwichtigende Geste und lächelte kurz.

Er legte die Hände zusammen, es schien ihn eher zu erfreuen, wie ein General und nicht nur wie ein Kaisersohn wahrgenommen zu werden. Seine Sprache war sehr fließend und so auch seine Gedankengänge, denn obwohl er jetzt Xū Dǎnshí ansprach, knüpfte seine Worte auch an seine gesamte Ansprache an. "Diese Unterschiede zwischen uns, zwischen euch untereinander, zwischen euch und mir, sie sind alle minimal ein Dualismus, wenn nicht gar komplexer. So müssen wir Homogenität immer konstruieren, sie ist uns in den seltesten Fällen innewohnend. Und da ist doch jenes, welches Sūn Ai gerade eindrucksvoll gezeigt hat. Hier im Inneren seid ihr, vielleicht auch unglücklicher- oder gezwungenerweise, homogener. Ich schätze, Xū Dǎnshí, auch wenn ich euch nur als Schemen in Erinnerung trage und damals noch ein junger Mann gewesen bin, dass ihr mir auch solches näherbringen möchtet, wenn ihr über die Völker des Westens sprechen möchtet. Das Reitervolk ist dabei nur das herausragenste und fürchterlichste der Völker des Westens, in seinen Methoden ähnlich grausam wie Chuang, in seiner Masse ähnlich beeindruckend und ebenso barbarisch, wie wir es sind." Es war nach den Gesprächen mit den anderen Männern schwer zu sagen, ob dieser selbstkritische Vorstoß ernst gemeint war oder doch nur ein ironische Bemerkung blieb[1].
"Ich werde gerne mit euch darüber sprechen. Wer weiß, vielleicht kann uns dies eine Metapher für eure Situation sein und alle können von dem, was wir besprechen, noch etwas lernen."
Auch wenn es sich andeutete, dass das Gespräch noch dauern würde, ließ er sich noch immer nicht nieder. Selbst den Staub beließ er unangetastet auf seiner Rüstung.
 1. 
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Xū Dǎnshí

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Das liederliche Spiel
« Antwort #272 am: 24.06.2011, 23:02:19 »
Der alte Mann versuchte das Gesicht seines Gegenübers zu deuten, doch vermochte nicht mit Sicherheit zu sagen, ob seine Worte seine Meinung über das Reitervolk widerspiegelten. Möglicherweise schlug er auf das Gras, um die Schlangen aufzuscheuchen[1], vielleicht lockte er ihn auf das Dach, um ihm die Leiter zu nehmen[2] oder - und das war eine faszinierende Möglichkeit - vielleicht meinte er es auch (mehr oder weniger) ernst.

Danshi räusperte sich. "Wie Ihr über das Reitervolk sprecht, ist außergewöhnlich für einen Bewohner Chuangs, dazumal für einen General und dazumal für einen Sohn des Kaisers. Ich weiß nicht, wie ernst ich sie nehmen kann, doch für mich spielt es keine Rolle, denn ich habe weder zu verbergen noch zu verlieren. Es geht also um das Reitervolk des Westens.", begann er das Gespräch.

"Es geht mir zunächst um eine allgemeine Beschreibung des Reitervolks, bevor ich auf das zu sprechen komme, was mir wichtig erscheint. Die Kunst des Krieges[3] ist es nämlich nicht." Nachdem er dies gesagt hatte, blickte er den Kaisersohn prüfend an[4], befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge, und fuhr dann im eher nüchternen Ton eines Gelehrten fort. "Es ist bekannt, dass in Chuang die Reitervölker in den Steppen des Westens als Plage gelten. Ständig bedrohen und brandschatzen[5] sie die Dörfer an den Grenzen. Das stört und ärgert natürlich die Verwaltenden des Reiches und sie entsenden Truppen.", nun veränderte Danshi seine Art zu reden; seine Stimme wurde lebhafter, zeigte jedoch keine Nuancen von Wertschätzung. "Zumindest zu meiner Zeit, pflegte man am Hof von großen Siegen und Erfolgen im Kampf gegen die Reitervölker zu berichten. Dies entsprach jedoch eher dem Wunsch nach guter Nachricht, als der Realität. Von meiner eigenen Truppe kehrte nur jeder zweite zurück - weil ich auf meine Männer achtgegeben hatte. Der Vorteil der Nomadenvölker ist der berittene Fernkampf, der im parthischen Manöver seine Vervollkommnung findet[6]. Die Truppen Chuangs dahingegen sind wenig mobil und verwundbar und haben den fernkämpfenden Reitern wenig entgegenzusetzen. Noch dazu haben die Reitervölker einen immensen taktischen Vorteil darin, dass sie kaum überrascht werden können. Sie unterhalten viele Späher und lassen sich nur bei großem Mangel auf Kämpfe ein, die für sie verlustreich sein könnten. Wenn wir ein Dorf bewachten, plünderten sie einfach ein anderes. Wenn wir ein Dorf aufgaben, ritten sie mühelos weiter in das Land hinein und kehrten bei Tagesanbruch wieder in die Steppe zurück. Wir konnten sie aufgrund ihrer Mobilität nicht eingrenzen und sie ließen sich auch nicht in ein für ihre Pferde unwegsames Gelände führen. Ebenso unterhielten sie auch kein stehendes Lager. Was sie brauchten, führten sie mit sich. Sie hatten ihre Kriegskunst also in einer Weise spezialisiert, dass Chuangs Truppen auch bei zahlenmässiger Übermacht noch im Nachteil waren."

"Nun gibt es auch in kultureller Hinsicht einiges zu sagen. Chaung pflegte das Reitervolk als Barbaren zu bezeichnen, denn sie kannten nicht unsere Gebräuche, Götter und auch nicht unsere Philosophie. Doch auch hier wäre es geeigneter, zu sagen, dass ihre Kultur ihrer Lebensweise angepasst war. Sie pflegen kaum eine geschriebene Sprache und lernen auch nicht die Sprachen anderer Völker. Auch deren Kultur lernen sie nur so weit, dass sie lohnende Gelegenheiten erkennen können. Wir haben keine Anzeichen für eine Verehrung von Göttern erkennen können. Jedoch gibt es eine sehr strenges Sittengefüge und ein gefangener Reiternomade stirbt bereitwillig, bevor er auch nur eine Information preisgibt. Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, bei der wir einen Nomaden gefangen genommen hatten. Wir banden ihm Hände und Füße und versuchten ihm Auskunft über die Gewohnheiten seines Volkes zu entlocken. Er biss sich in der Nacht die Zunge durch und erstickte an seinem Blut.", erläuterte Danshi ruhig seine Erfahrungen und hob dabei die Augenbrauen. "Offensichtlich pflegen sie also doch eine Art Religion, denn welchen anderen Grund gäbe es sich bei der Entscheidung zwischen Leben und Tod für den Tod zu entscheiden, wenn er nicht sein Nachleben oder Andenken riskierte?[7]"

Danshi hatte seine Ausführungen fürs Erste beendet. "Ihr seht, dass sie recht unempfindlich sind, gegen Sunzis Strategeme. In der militärischen wie auch kulturellen Spezialisierung sehe ich den Vorteil der Reitervölker gegen Chuang. Sie wollen keinen taktischen Vorteil gewähren, verraten nicht, laufen nicht über und lassen sich auch nicht ausspionieren. Wie schätzt Ihr die Situation ein?", fragte er überraschend.
 1. Strategem: Die Reaktion des Gegeners austesten oder ihn aufscheuchen
 2. Strategem: Ein leichtes Ziel bieten, dass sich der Gegner verrennt
 3. Anspielung auf Sunzis 'Kunst des Krieges' und man könnte darin auch eine Ablehnung jeglicher Kriegsführung herauslesen, da dieses Buch zu den bedeutendsten zu diesem Thema gilt
 4. Motiv erkennen: 14
 5. Brandschatzung: Hier durchaus auch im Sinne von niederbrennen gebraucht.
 6. Parthisches Manöver
 7. Denial of Death
« Letzte Änderung: 25.06.2011, 09:25:21 von Xū Dǎnshí »

Sūn Ai

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Das liederliche Spiel
« Antwort #273 am: 27.06.2011, 09:40:13 »
 Sūn Ai war erstaunt über das verhalten des Kaiserssohns, was sie sich aber nicht direkt anmerken lässt. Sie erkannte viel Wahrheit in den Worten dieses Mannes. Ihre Hoffnung voran zu kommen, einen Fortschritt zu machen, flammte wieder auf. Es interessierte sie, was draußen außerhalb des Gefängnisses vor sich ging, doch hörte sie noch ruhig zu und folgte auch den Ausführungen von Xū Dǎnshí. Die Geschichte mit dem Gefangenem des Reitervolks ließ sie schauern. Die Vorstellung sich selbst die Zunge ab zubeißen und an der Blutung zu ersticken, fühlte sich grausam an. Erst als niemand mehr sprach ergriff sie das Wort.
"Ihr und eure Brüder seid selbst sehr unterschiedlich, nicht direkt homogen. Im Vergleich zu euren Brüder deutet ihr nicht auf uns und wollt wissen, wer von uns es war. Die Begegnung mit Chuang Qi steckte anscheinend noch in ihren Knochen. Ich sage nicht, dass es euch nicht interessiert, wer es war. Euer Verhalten uns gegenüber ist allerdings sehr nobel. Liegt dies an euch oder geschieht etwas außerhalb dieser Zelle. Fängt man an zu denken, dass der Sünder doch nicht unter uns ist?" Sūn Ai stimme war im letzten Satz schneller geworden und sie unterbrach ruckartig, um sich wieder zu fangen und ruhiger zu werden.
"Darf ich euch so frei fragen, was ihr denkt, was mit Chuang passieren wird?"

Menthir

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Das liederliche Spiel
« Antwort #274 am: 27.06.2011, 15:14:40 »
05.01.1042 - Tag des Pandas - Früher Morgen

Er nickte Xū Dǎnshí zu und kratzte sich das Kinn. "Es mag sein, dass es euch ungewöhnlich vorkommen mag, wie ich dieses Problem behandel. Das liegt ein wenig daran, dass der Hof vorgibt, wie man sich mit gewissen Informationen zu verhalten hat und jene, welche sich nicht einschüchtern und wie ein Hund binden lassen, haben meist nicht genügend Wissen, um an diesem Hof etwas zu verändern, weil man ihnen den Zugang schlichtweg verwehrt. Jene, an die man Hoffnungen knüpft, doch an denen man gleichzeitig auch zweifelt, vertraut man enorme Aufgaben an, welche nicht direkt für den Hof von Bedeutung scheinen. Der Hof erhofft sich, dass diese Person ihren Wert oder ihren schlechten Charakter erweist. Ich hab das zwar geschafft, aber dennoch widersetze ich mich höfischer Vorgabe, wie mein Charakter zu sein hat, ja.", erklärte der General leichthin, ohne sich durch Xū Dǎnshís Worte verblüfft oder angegriffen zu fühlen, auch Sūn Ais Worte nahm er so hin, wie sie gesprochen waren.

"Ihr könnt meine Worte ernst nehmen, Xū Dǎnshí, und ich wäre euch dankbar dafür. Sollte es euch so scheinen, als würde ich im Fieberkrampf sprechen oder ihr glauben, dass ich nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit spreche, solltet ihr das auch so deutlich machen. Es hilft keinem von uns, Feindseligkeiten hinter höfischen Gehabe verstecken zu wollen, auf unseren Standpunkten zu verharren und uns innerlich zu freuen, wie überlegen wir doch der anderen Person sein. Das bin nicht ich, und das seid auch nicht ihr, schätze ich.", setzte er seinen Ausführungen voraus.
"Die Kunst des Krieges, wer auch immer an seiner Zusammenfassung gewirkt haben mag, von Sunzi[1] bis Cao Cao[2], beinhaltet an sich keine Kunst. Es gibt Sprachen, in denen Kunst und Handwerk dasselbe bedeuten und mehr sollte es auch nicht sein. Es ist ein Handwerk, wie das Schreiner- oder das Maurerhandwerk, nur ist es gefährlicher. So wie ein leidender Bauer seine Ernte nicht einfahren kann und eine Krankheit einen Landstrich ausdünnen kann, macht es der Krieg. Idealisiert man ihn in seinem Kern, macht man ihn nur grausamer als er ist. Belegt man ihn mit schönen Begriff der Ästhetik, schürt man nur die Verzweiflung jener, welche in einem Krieg kämpfen müssen. Menschen, Zwerge und Elfen unter Waffen im Geiste durch jenes, was sie tun, zu zerstören, das hat nichts mit Ästhetik oder Kunst zu tun. Wenn ihr mich auch in jungen Jahren in Erinnerung habt, werdet ihr mir ausweisen können, dass ich niemals Illusionen um die Gefahr eines Krieges gemacht habe, dass ich jedoch auch nicht verhindern konnte, was andere Offiziere und der Hof sehen wollten."
Er strich sich über die wunden Schenkel und richtete sich wieder voll auf. Er war in der Tat leidensfähig, denn er verzog kaum eine Miene.
"Ich gebe euch zu euren Beobachtungen recht, auch seit dieser Zeit hat sich die Art des Kampfes nicht geändert, auf beiden Seiten kaum. Ich habe seit Jahren für Änderungen gekämpft, aber ein Reich, welches sich nur für ein Überladen ihrer eigenen kulturellen Symbole einsetzt, interessiert nur die Weisheit eines Sunzi, eines Cao Cao oder eines Sun Bin[3]. Ich kann euch aus der Lektüre der Werke sagen, dass auch jene Feldherren mit solchen Problemen gekämpft haben, aber das wollen die Männer des Hofes nicht hören. Sie sagen, ohne über die Situation zu reflektieren, dass die Weisheiten geschrieben stünden und es nur an mir wäre, sie umzusetzen. Jede Weisheit dieses Reiches ist also nur rein theoretischer Natur, eine Umsetzung erhält sie in den seltesten Fällen, weil man daran nicht ernsthaft interessiert ist. Es gibt kein Zusammenwirken, keine Hilfestellung in der Umsetzung, sondern nur den Glauben, dass die Weisheiten geschrieben stehen, wie ein Weisungskatalog, der einfach nur noch befolgt werden muss." Er verzog seine Lippen zu einem Strich und es war zu erkennen, dass er sich eine Niederlage eingestand, auch wenn er beteuerte, dass er nicht so viel dazu konnte und er sich immer noch um eine Kehrtwende bemühte.

Er überlegte einen Moment. "Die Reiter sind jedoch nicht unempfindlich gegen Sunzis Strategeme, denn jene sind so allgemein gehalten, dass sie kaum zu widerlegen sind, so sie denn umgesetzt werden. Es reicht jedoch nicht, nur von ihnen zu wissen, sondern man muss sie verstehen und man muss die Kompetenz entwickeln, sie einsetzen zu können. Sunzis Werk ist kein Werk kultureller Blüte, sondern allgemeiner Betrachtungen über das Kriegswesen. Ja, wenn Sunzis Strategeme umgesetzt würden, dann würdet ihr erkennen, Xū Dǎnshí, dass die Opfer eures Regiments noch sinnloser waren, als ihr sie jetzt beschreibt. Und auch wenn ich euch bei der Sinnlosigkeit der selbstmörderischen Unternehmen recht geben muss, müsst ihr anerkennen, dass eine ordentliche Lektüre Sunzis dies verhindern würde. Um genau zu sein, leben diese Barbaren - wenn wir sie so bezeichnen wollen oder als Xiqu, wie ihr Volk auch heißt - die Strategeme fast besser als wir. Die Kunst des Krieges, und in diesem Moment würde sie zur Kunst im modernen Sinne werden, besagt, den Gegner zu besiegen, ohne Männer und Material zu opfern. Einen Gegner durch geschickte Manöver und ausreichende Spionage an einen Punkt zu bringen, in dem er den Kampf als sinnlos anerkennt oder seine Situation als alternivlos, jedoch nicht nicht hoffnungslos, und sich ergibt. Das macht den Meister Sunzis Strategeme aus und damit wäre uns allen mehr geholfen, jedoch ist keiner von uns ein Meister seiner Schriften. Und das ist genau das, was ich meine. Ja, die Weisheiten sind existent, aber wer soll sie umsetzen? Wer kann das? Es sind nicht mehr als abgedroschene Phrasen für uns, so gut sie sich anhören. Und ja, weil Sunzis Kriegsführung nicht umgesetzt werden kann - also einen Krieg zu gewinnen, ohne eine Schlacht wirklich führen zu müssen . ist es in der Tat keine Kunst des Krieges, die in Gangxi den Krieg beherrscht.

Ich habe - so sehr ich abgedroschene Weisheiten hasse, so sie nur dahergesagt, aber ich nicht genutzt werden - immer wieder Truppen losgeschickt, um den Lebensstil der Xiqu kennenzulernen, ihre Denkweisen und ihre Kultur zu verstehen. Ich persönlich halte nicht eine Spezialisierung ihrer Kultur für überlegen, ich halte grundsätzlich allerdings auch nicht Chuangs Kultur für überlegen. Das mag sie vor 1000 Jahren gewesen sein, doch nun ist sie nur noch ein Abbild dessen, was sie einst war. Gefüllt mit reichen Weisheiten, welche zu leeren Phrasen des Philisterlebens[4] verkommen sind. Ich halte Xiqu für überlegen im Moment, weil sie intelligentere Anführer haben, die ihre wenigen Ressourcen und Möglichkeiten besser zu nutzen wissen.
Habt ihr auch jemand getroffen, der sich selbst gerichtet hat, zeigt mir das nicht, dass ihre Überzeugungen stärker wären. Es kann auch Angst oder Wahnsinn gewesen sein, oder hättet ihr einen anderen Reiter getroffen, hätte er vielleicht unter Tränen gebeichtet oder gelogen, um sich zu retten. Ich habe Männer gesehen, die haben aus eigenem Leid gelernt haben, ich habe Männer gesehen, die haben aus dem Leid anderer gelernt, aber ich habe auch Männer gesehen, die an eigenem Leid und fremden Leid zugrunde gingen oder das Gesehene als richtig anerkannten und anderen dieses Leid zufügten."
Der General hatte er sehr sanfte Stimme, wie auffiel. Er schien kein typischer Mann der Front zu sein, sondern sich ernsthaft über das Schicksal seiner Feinde ebenso Gedanken zu machen, wie über seine eigenen Männer.
"Ich denke, dass eure Sichtweise euren eigenen Erfahrungen geschuldet ist, guter Xū. Ich glaube nicht daran, dass jeder Mensch immun gegen Verrat, Desertion und Spionage ist. Kein Mensch ist immun gegen Angst. Und obzwar eine Kultur in diesen Punkt helfen und unterstützen kann, kann sie Verrat, Desertion und Spionage niemals verhindern.
Für Xiqus Erfolg hat sogar Sunzi eine Erklärung. Er schlägt vor, dass man nie einen Menschen dazu zwingen sollte, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Wenn man einem Feind keinen Ausweg lässt, erkennt er die Aussichtslosigkeit seiner Lage  und in der aller Regel wird er dadurch bedingt nicht einfach aufgeben, sondern eine neue Kraft entwickeln, um sich zu retten. Vielleicht kann er sich nicht retten, aber er wird sich aufbäumen und viel mehr Schaden anrichten, als wenn ich ihm kontrollierte Auswege anbiete. Und das ist passiert, denn meine Vorderen haben ihnen bereits vermittelt, dass sie entweder zu Konformität übergehen oder zerstört werden, als sie sich, aus den selben Gründen aus denen auch Chuang anderen Kulturen nicht annimmt, der Anpassung verweigerten, kamen die schweren Waffen Chuangs. Das ist die Stärke Xiqus, nicht ihre eigene Kultur. Obgleich unsere Kultur durch ihren Allheitsanspruch ihre nur noch stärkt. Je mehr Konformität wir fordern, desto individualistischer werden sie, je mehr wir sie mit dem totalen Krieg[5] bedrohen, desto widerstandfähiger werden sie. Und so wird dieser Krieg niemals zuende gehen, bis nicht eine Seite völlig zu Grunde gegangen ist oder ein Kaiser Einsicht erhält. Ein Mann alleine kann nichts ändern, wenn er nicht gerade Kaiser ist. Die Offiziere und andere Generale stehen gegen mich in meiner Sicht, sie wollen Xiqu erdrücken. Und das ist, wie ich die Situation einschätze. Es sind zwei Widder, die einander anrennen, bis einer mit gebrochenem Hals zu Grunde geht oder flieht[6]. Und so beschränke ich mich auf die kleinen Erfolge, die kleinen Vermittlungen und den kleinen Frieden, den ich in Gangxi erreichen kann."


Dann schaute er zu Sūn Ai, bereit auch ihre Frage zu beantworten. "Es liegt an mir, dass ich euch so behandel. Außerhalb dieser Zelle geschieht eine Menge, jedoch nichts, welches mein Verhalten euch gegenüber so verändern würde, dass ich euch grundsätzlich hassen oder verhöhnen muss. Ich sehe nicht, dass jeder von euch ein Täter ist. Nur weil einer oder mehrere ein Täter sein könnte, muss ich nicht alle, wie jene behandeln. Es erscheint mir sinnvoller euch alle so zu behandeln, wie ihr es aufgrund eurer Geburt verdient habt: als Menschen. Und, auch wenn ich mich wiederhole, wenn ihr mir keinen Grund dazu gibt, euch anders zu behandeln, indem er mich verhöhnt oder mir in entwaffender Weise ein Geständnis oder Lügen präsentiert, sehe ich auch keinen Grund, das zu ändern." Die Frage von Sūn Ai war sicherlich nicht die freundlichste, aber er beharrte nicht auf irgendwelche Ausdrücke und Höflichkeiten und das zeigte sich auch in der Behandlung.
"Was jedoch mit Chuang passieren wird, das ist schwer zu sagen. Unsere Feinde werden, so sie davon erfahren, die Gunst der Stunde nutzen, meine Brüder werden sich weiter zerstreiten und Usurpatoren werden sich erheben und ihren Gebieten Autonomie verschaffen wollen. Bestehende Aufstände werden sich ausweiten und ihre eigenen Reiche gründen, die sich auch untereinander zum Teil um Ressourcen anfeinden werden, denn Ressourcenknappheit ist eine der größten Gefahren in unserem Reich. Es wird eine Phase des Bürgerkrieges folgen und euer Schicksal wird nicht viel daran ändern, ob ihr es ändert oder nicht. Jedoch seid ihr der Gradmesser, an welchen sich der neue, potentielle Kaiser zu messen hat. Gerade, da die Thronfolge nicht so klar ist, wie sie sein sollte. Ich erdreiste mich jedoch nicht, dass ich alles vorhersehen könnte. Ich kann euch sagen, dass ich in den Westen gehen werde, und versuchen werde, Xiqu zu halten. Xiqu wird von zwei Seiten bedroht, gegen uns kämpfen sie, aber auch gegen Xian. Wenn der Westen fällt, wird Xian Chuang verhehren und dies ist der einzige Grund, warum ich die Angriffe der Reiter und die Befehle des Kaisers toleriere und ertrage. Ohne Gangxi wird das Reich fallen, es ist schlichtweg eine Notwendigkeit diesen Krieg am Laufen zu halten, auch wenn das Vorgehen tumb und zu überdenken ist."
Etwas Schweiß stand auf der Stirn des Generals, er war sichtlich erschöpft und sein langer Monolog machte es nicht besser, dennoch wollte er weiter zum Gespräch aufmuntern.
"Aber das sind nur meine Eindrücke. Welche habt ihr noch vom Westen und vom Schicksal Chuangs oder gar von eurem eigenen? Sūn Ai hat richtig festgestellt, dass meine Brüder und ich eher heterogen sind. Wie ich bereits erklärte, Homogenität ist ein künstlicher Zustand. Familiäre Bande sind natürlich eine Erleichterung, welche jedoch unter der Verlockung von Macht schnell gekappt sind."
 1. Sunzi
 2. Cao Cao
 3. Sun Bin
 4. Philister in diesem Fall als Begriff für den Spießbürger
 5. Total War als Kennzeichen, alle Ressourcen zu nutzen, um zu kämpfen, aber auch als Kennzeichen den Feind materiell, physisch, psychisch und kulturell restlos zu vernichten. Auch wenn der Begriff sicherlich anachronistisch ist, lässt sich das Konzept sicherlich auch außerhalb des Nationalsozialismus beobachten und durch die Zeiten.
 6. Zur besseren Vorstellung
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Lu Chieng

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Das liederliche Spiel
« Antwort #275 am: 29.06.2011, 18:03:09 »
"Nun Herr, da ich wenig von den Reitervölkern weiß und mein Interesse im Moment weniger auf den Problemen des Reiches liegt sondern eher, dass ich gerne nocheinmal den Himmel sehen würde bevor ich als alter Mann sterbe könnt ihr mir vielleicht eine Frage beantworten:

Ich persönlich kenne mich nicht mit den Sicherheitsvorkehrungen aus, die zu überwinden gewesen wären um zum himmlischen Kaiser zu gelangen, aber der Aussage Boss nach war es unmöglich ohne sein Wissen zu ihm zu gelangen. Nun ist mir bewusst, dass Boss dies immer behaupten würde um keinen Zweifel an seiner Fähigkeit aufkommen zu lassen, die ich ihm nicht absprechen möchte. Aber es war sicher nicht einfach den himmlischen Kaiser zu sehen. Ihr selbst habt die Sicherheitsvorkehrungen an diesem Haus gesehen. Meine Frage ist nun folgende, wenn ihr rein hypotethisch der Mörder des himmlischen Kaiser wäret und nun hier eingesperrt wärt. Wäre es ein Problem dieses Haus zu verlassen? Wir hatten nun schon wenigstens einen Besucher von dem ich vermute, dass er nicht durch die Vordertür eingelassen wurde, wenn ihr versteht.

Also welchen Grund gäbe es für einen Menschen hier zu bleiben, wenn es eindeutig im Bereich des möglichen sein müsste, diesen Kerker zu verlassen? Meine philosophische Bildung ist nicht so weit gediegen wie bei euch oder dem ehrenwerten Xū Dǎnshí, sodass ich mir einen Reim auf diese Frage machen könnte."


Lu Chieng schaute den Kaisersohn direkt an und schien wie um seine Frage zu unterstützen eine Augenbraue hochzuziehen.
"Furchtlosigkeit ist die Tugend der Narren. Sie entsteht nicht aus Mut, sondern aus mangelnder Vorstellungskraft. Der Weise fürchtet sich und lässt sich trotzdem nicht von seinem Weg abbringen. Er wird nur vorsichtig."

Xū Dǎnshí

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Das liederliche Spiel
« Antwort #276 am: 30.06.2011, 20:19:44 »
Danshi nickte kurz, als Lusan seine Frage stellte, um sein Verständnis und seine Zustimmung auszudrücken. "Sehr richtig, Lusan. Ich schätze Eure Freiheit bedeutsamer ein, als dass ich meinen Wissensdurst stillen kann. Denn Ihr habt Euer Leben noch vor Euch. Daher will ich den ehrenwertem General bitten, Eurer Antwort Vorrang zu gewähren, wenngleich ich auch auf unser weiteres Gespräch hoffe.", sagte er mit freundlichem Ernst, dass es niemand seine Worte als Sarkasmus auffassen musste.

Als der Kaisersohn Lusans Frage beantwortet hatte, fuhr er fort. "Es ist richtig, dass ich meine Sichtweise meiner eigenen Erfahrung verschulde. Und ich habe die Xiqu als ein durch ihre Kultur geeintes Volk erlebt, in einem Grad, wie es das Großreich Chuang gerne erreichen würde. Ich habe den Eindruck, dass es Repression und Alternativlosigkeit sind, die es schaffen, die diesen Zusammenhalt ermöglichen. Wer aus dem Gefüge fällt, fällt tief. Alleine wird ein Ausgestoßener schnell zu Grunde gehen. Nun will ich mit Euch nicht über Kriegsführung, sondern über ein gutes Leben sprechen, wenn Ihr erlaubt.", sagte er, wobei er sich mit der rechten Hand die Stirn rieb, als würde er in einer verloren geglaubten Partie Go[1] über den nächsten Zug nachdenken.

"Dazu beginnen wir mit unserem Leben jetzt, denn es ist kein gutes Leben. Das hängt mit unserer Kultur zusammen. Es heißt, die Menschen würden ihre eigene Geschichte machen, aber sie machten sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen[2]. Die Älteren lehren den Jüngeren und die Jüngeren tragen das Bewährte weiter und verändern, was sich nicht bewährt hat. So erfährt eine Kultur unzählige Male Bestätigung und bleibt doch wandlungsfähig[3]. Könnt Ihr mir folgen?"
 1. Go: ein asiatisches Brettspiel
 2. Zitat v. Marx: 18. Brumaire des Louis Bonaparte
 3. vgl: Intelligenz der Masse
« Letzte Änderung: 04.07.2011, 08:14:26 von Xū Dǎnshí »

Menthir

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Das liederliche Spiel
« Antwort #277 am: 04.07.2011, 16:17:40 »
05.01.1042 - Tag des Pandas - Früher Morgen

Der Kaisersohn nickte Lu Chieng zu und lächelte sogar ernsthaft, als Lu Chieng davon sprach, dass er lieber den Himmel sehen würde denn als alter Mann im Gefängnis zu sterben. "Man altert schnell in fremden Mauern.", sagte er mit einem Schmunzeln. Das Schicksal der Gefangenen schien ihm nicht die Laune zu verderben. Das mochte subjektiv betrachtet, aus der Perspektive der Denunzianten, nicht schwer sein, jedoch konnte man inzwischen erahnen, dass das Schicksal der Denunzianten und der Kaisersöhne miteinander verknüpft war, selbst wenn man es nur mit Thron- und Rangfolgestreitigkeiten zu erklären versuchte.
"Es geht hierbei ja nicht nur um eure Interessen, Lu Chieng. Stellt euch nur vor, ich hätte ein ähnliches Bedürfnis wie ihr, nur über meine Probleme sprechen zu wollen und andere Probleme nicht anzuerkennen, weil sie sich meiner bisherigen Kenntnis oder meinem Interesse entziehen. Wir würden niemals auf einen grünen Zweig kommen, weil wir beständig aneinander vorbereden würden und das wäre tragisch. Man stelle sich vor, unser beider Leben hinge von einer Übereinkunft ab und wir wehren die Perspektive des anderen nur deswegen ab, da wir unsere eigene vorziehen wollen. Wir würde beide elendig versterben."
Er blickte zu Xū Dǎnshí und dann wieder zu Lu Chieng, seine Stimme wurde belehrend.
"Um genau zu sein, haben Xū Dǎnshí und ich gerade über dieses Thema gesprochen, wenn zwei Kulturen nur ihrer eigenen kulturellen Perspektive harren und sich gegeneinander aufreiben statt ein ordentliches Miteinander zu finden. Aber gut, da meine Worte euch nicht für solches zu sensibilisieren vermögen, werde ich versuchen, die notwendigen Schritte auf euch zuzumachen, auch wenn ihr das wahrscheinlich nicht ausreichend zu schätzen wisst."

Der Kaisersohn blickte sich innerhalb des Raumes um, verweilte eine ganze Weile in dieser beobachtenden Pose und sog dann die Luft hörbar durch die Nase ein.
"Ich sehe an vielen Stellen noch Patina[1] oder Staub. Das liegt in erster Linie wahrscheinlich daran, dass ihr euch noch nicht mit dem systematischen Durchsuchen eures Gefängnisses beschäftigt habt.", bemerkte Chuang Diyan, während er das Gefängnis zu durchschreiten begann, seine Auge war scheinbar äußerst wachsam. "Die Teppiche sind die am häufigsten genutzten Gegenstände dieses Gefängnis, an den beständigen und staubigen Schmutzkanten lässt sich erkennen, dass der schwere Teppich über lange Zeit nicht bewegt wurde." Seine Schritte führten ihn weiter in den Waschraum der Denunzianten. "Die Zuber wurden ebenfalls nicht bewegt, aber immerhin wird häufig das Wasser gewechselt, sie standen fast immer trocken. Ein Blick in die Kloake verwehre ich mir, dennoch wäre auch dies unter Umständen ein Ort für Verstecke oder für Flucht. Die Geruchsbelastung ist erträglich trotz eines fünftägigen Aufenthaltes. Die Kloake muss also tief sein. Ein Licht könnte enthüllen, ob sie von anderer Stelle entleert wird, einfach nur tief ist oder gar einen schwachen Wasserzulauf hat." Sein Blick fiel auf die Päonie, weshalb er erstaunt sagte. "Diese Blume gehört wahrscheinlich nicht zum Inventar, sie wirkt leicht welk. Auch wenn ich von Blumen keine Ahnung habe, erkenne ich, dass sie sich in der Phase des Verfalls befindet." Der General trat wieder aus dem Waschraum hinaus und blickte sich um. "Ohne eure Zellen selbst durchsuchen zu wollen, um eure Sphäre der Freiheit nicht zu verletzen, kann ich sicherlich um einige Münzen wetten, dass ihr diese auch nicht durchsucht habt. Einzig weist die linke Tür Beschädigungsspuren auf, da es aber widersinnig ist, die Tür zu zerstören, wenn man entfliehen will, wird es nicht euer Werk gewesen sein. Zumindest wirkt mir keiner kräftig genug, um solche Schäden zu verursachen."
Er stand inzwischen wieder an seinem alten Platz. "Dann beantwortet mir eins, Lu Chieng. Wenn Freiheit euer Begehr ist, warum habt ihr weder nach ihr gesucht, noch die offensichtlichen Wege probiert, wie die beiden Türen?"
Der General blickte Lu wieder an, blickte ihm sogar richtiggehend in die Augen.
"Es gibt keinen Ort, welcher auf ewig verschlossen sein kann. Es gibt nur unterschiedliche Schwierigkeiten des Zugangs. Wenn ihr auf eine beliebige Höhle unter der Erde verweist, ist diese nur insoweit verschlossen, als dass man ihren genauen Ort nicht kennt. Wenn ihr auch das stärkste Schloss erwähnt, dann vergesst ihr, dass es nicht unbedingt einer Tür bedarf, um ein Haus zu betreten. So mag es angehen, dass der Boss unbestechlich war und sich keines Eindringlings bewusst war. Aber wer sagt, dass der Eindringling das einzige Portal genutzt hat und nicht einen anderen Weg?"

Chuang Diyan blickte jetzt wieder zu Xū Dǎnshí. "Ich bin der Bitte nachgekommen und habe Lu Chiengs Frage den Vorrang gewährt, nun will ich die euren wieder beantworten." Ein leichtes Zucken in den Beinen des Sohnes war zu vernehmen, mit fortschreitenem Gespräch würde ihm die Wahrung seiner ungerührten Miene schwerer und schwerer fallen[2]. Die Miene des Kaisersohnes und Generals war stoisch. Er war definitiv in Sachen Standfestigkeit ein Vorbild für seine Soldaten, selten hat ein anderer Mensch soviel Selbstdisziplin gezeigt; von den anderen Kaisersöhnen war keiner derartig diszipliniert sich selbst gegenüber.
"Wir geben unsere Freiheit für welchen Zweck auf? Meistens für Sicherheit und Anerkennung, wir brechen mit Kultur und Normen und Gesetzen, wenn wir unsere Freiheit für eingeschränkt halten und verstecken uns hinter jenen, wenn wir unsere Freiheit eingeschränkt sehen und uns gleichzeitig nicht in der Lage fühlen, unsere Freiheit selbst zu verteidigen. Freiheit ist dabei absichtlich ein vager Begriff, denn unterschiedliche Gruppen und Individuen haben unterschiedliche Vorstellungen von Freiheit. Und diese Vorstellungen fechten gegeneinander, immer und immer wieder, von Generation zu Generation. Ich teile eure Beobachtungen zu einem gewissen Teil und gerade eine Aussage mit der Weitergabe des Bewährten habe ich euch beschrieben, wenn auch nur im Ansatz, als ich von der Tradition des Konfuzius oder der Kriegslehren des Sunzi sprach. Sie bleibt wandlungsfähig und sie wird wandlungsfähig, da jede Generation ihre Herrschaft und ihr Vorrecht auf Herrschaft anders legitimiert und auch legitimieren muss. Menschen, die keinen Krieg erlebt haben, gehen anders mit diesem Wort um. Menschen, die keine Liebe erfahren haben, gehen anders mit Emotionen um. Nomadische Reiter, welche noch nie an den großen Süßwasserseen der Regenbogentempel standen, kennen den süßen Geschmack der wenigen fruchtbaren Äcker dieses Landes nicht und gehen anders damit um, als jene, welche dort geboren sind und nur diesen Luxus kennen. Und deswegen ist unser Leben auch nur manchmal ein gutes Leben, Xū Dǎnshí. Unser Reich ist voller unterschiedlicher Völker und Bevölkerungen, in jedem Landstrich lebt es sich ein wenig anders. Das liegt auch daran, dass diese Kultur nur ein Leitbild ist und in manchen Gegenden nicht greift, weil am Hof und in den Hinterhöfen[3] Korruption herrscht. Und gerade weil es so viele unterschiedliche Lebensumstände und Weltsichten gibt, ist es außerordentlich schwer ein verbindendes Element mit der Kultur zu stellen, aber ohne diese Kultur und ohne diese Versuch gäbe es nur karges Land."
Diyan wischte sich fast beiläufig ein paar Schweißperlen von der Stirn.
"Lasst mich meinen Punkt anhand eurer Wahlheimat illustrieren, Xū Dǎnshí. Cui Bao ist das grüne Juwel und eure Untertanen oder Brüder, als was ihr sie auch sehen mögt, streben nach mehr Freiheit, weniger Repressionen und einem im Kleinen geordneten Frieden, was bedeutet, dass sie nicht von Männern regiert werden wollen, welche ihre Lande nur einmal im Leben, wenn überhaupt sehen. Dies alles ist nachzuvollziehen, aber auf der anderen Seite ist Cui Bao die Kornkammer des Reiches und ihr Bestehen als Teil Chuangs ist zentral für das Überleben des Großreiches, weil erst durch den enormen Überschuss der Bauern Cui Baos die Kriegsführung, aber auch das Leben in den entlegenen Gebieten Chuangs möglich wird. Cui Bao gehen zu lassen, bedeutet Millionen von Menschen, Elfen und Zwerge an Hunger sterben zu lassen, nur damit eine kleine Handvoll glücklicher leben kann. Aber selbst wenn wir das Leid von Millionen nicht mit der Selbstzufriedenheit einer kleineren Masse messen wollen[4], dann lasst mich zumindest prognostizieren, was mit Cui Bao passieren wird. Wenn dieses Reich zerfällt oder es nicht mehr im Schutze Chuangs steht, wird es den Schutz, den es durch die Masse genoss, verlieren. Dann wird der Nachbar Qinglong Cui Baos habhaft werden soll, denn wozu sollen sie hungern, wenn ihr Nachbar reich ist und in einem der wenigen grünen Landstriche des Südens liegt? Cui Bao wird Gegenstand des größten Zankes sein, da jeder Cui Bao wegen seiner Ressourcen und dem Wohlstand seiner Bewohner beneidet und dann wird Cui Bao brennen.
Seht, Xū Dǎnshí, eine große Reform wird notwendig sein für ein großes Reich, da würde ich mit euch übereinstimmen, wenn ihr das so seht. Aber ich möchte daran erinnern, dass Chuang nur existieren kann, weil es so gut verzahnt ist und die einzelne Distrikte in einen friedfertigen Austausch ihrer Erzeugnisse gebracht werden. Dieser Austausch macht es erst möglich, dass so viele Menschen ein so unfruchtbares Land bewohnen können. Und den Preis, den sie für ihre Chance auf Leben zahlen, ist dieser Kultur mit all ihren Schwächen, aber auch mit all ihren Stärken, anzugehören. Das ist nicht immer ein fairer und nicht immer ein zu umgehender Kampf, aber es ist das Beste, was wir bisher erreicht haben. Wollen wir dies dafür gehen lassen, dass wir glauben, dass wir mehr Rechte auf unser Leben haben könnten? Wenn ja, dann müssen wir es reformieren, aber nicht zerstören. Sonst wird nicht nur Krieg diese Reiche fressen, sondern Hunger und Krankheit. So mag es zwar kein gutes Leben sein, aber immerhin ist es ein Leben."

Der Schweißstrom auf der Stirn des Mannes wurde stärker, er blickte Xū Dǎnshí auffordernd an. Er wollte über ein gutes Leben sprechen.
 1. Patina
 2. 
Motiv erkennen 22 (Anzeigen)
 3. Schimpfwort für die Distrikte Chuangs
 4. Grober Utilitarismusgedanken nach dem hedonistischen Kalkül
« Letzte Änderung: 08.07.2011, 15:33:49 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Xū Dǎnshí

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« Antwort #278 am: 11.07.2011, 18:52:06 »
Danshi nickte reichlich, während der Kaisersohn sprach. "Geschätzter General Chuang Diyan, ich bemerke, Ihr scheint offen zu sprechen und auch mich anhören zu wollen. Dafür möchte ich Euch danken. Wir sind alle besser beraten, wenn wir einander Gehör schenken. Auch sehe ich, dass wir in vielen Dingen übereinstimmen, wenngleich ich andere Schlüße ziehen mag."

"Wie Ihr sagtet, leben in diesem Großreich sehr viele unterschiedliche Wesen in sehr unterschiedlichen Gebieten. In Jahrhunderten der kulturellen Selektion hat sich in jedem Volk eine bestimmte, ihren jeweiligen Umständen entsprechende Kultur herausgebildet. Eine jede solche Kultur gibt Antworten auf die existenziellen Fragen, die da lauten: "Wo komme ich her?", "Warum gibt es Leiden und Tod?", "Wonach soll ich mein Leben ausrichten?", "Was geschieht nach meinem Tod?" und viele andere. Dabei ist es nunmehr interessant, wie sich bestimmte Lebenshaltungen in vielen Kulturen in ähnlicher Weise herausgebildet haben. Man kann dies daran erkennen, dass es in den meisten Kuturen vergleichbare Bilder für die ewig wiederkehrenden Grundkonstanten des humanoiden Lebens gibt[1], z.B. die nährende Mutter, der beschützende Vater und der weise Gelehrte. Ich bin mir gewiss, dass diese Bilder den Grundbedürfnisse der humanoiden Völker entspringen, die da wären 'Grundversorgung', 'Schutz', 'Freude', 'Verbundenheit', 'Liebe', 'Tätigsein', 'Transzendenz' und andere[2]. Eine gute Kultur vermag es, seinen Mitgliedern erprobte Strategien zur Erfüllung der Grundbedürfnisse an die Hand zu geben und gleichsam die Freiheit zu garantieren, andere Strategien ausprobieren zu können. Ein Grundbedürfnis lässt sich nämlich fast niemals nur auf eine einzige Art und Weise befriedigen und nicht jede Strategie können wir 'gut' heißen.", erklärte Danshi.

"Lasst mich Euch dies demonstrieren: Nehmen wir an, ich habe ein Bedürfnis nach Sicherheit für mein Leib und Leben. Ich kann mit meinem Nachbarn Frieden schließen oder ihn totschlagen. Das ist das Heimtückische, das Üble fällt nämlich oft leichter als das Gute. Es ist leichter, ein Kind zu schlagen, als es zu erziehen. Es ist leichter, sich unterzuordnen als für sich und andere einzutreten. Es ist leichter, zu erzwingen, als zu vertrauen. Ihr fragt Euch jetzt sicherlich, wie ich eine schlechte von einer guten Strategie unterscheiden kann. Ich sage Euch, dass jeder Humanoide die Fähigkeit hat, das Gute vom Üblen zu unterscheiden. Diese Fähigkeit ist Teil der humanoiden Wesenheit und ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich benannt worden, z.B. als 'der göttlich Funke' oder die 'Buddhanatur'. Ihre wichtigsten Eigenschaften sind Vertrauen, Hoffnung und Liebe. Doch am größten unter ihnen ist die Liebe[3]. Und obgleich diese Fähigkeit in jedem Wesen angelegt ist, muss sie zuerst erweckt und anschließend gepflegt werden, wie Mengzi lehrt[4]. Darin sehen wir eine weitere Eigenschaft einer guten Kultur, nämlich ob sie die Erweckung der humanoiden Wesenheit dienlich ist oder ihr entgegensteht. Doch warum ist es so ungemein schwierig, eine einzige Kultur zu formen, die alle befrieden kann, denn immerhin scheinen die Grundbedürfnisse bei allen Humanoiden gleich zu sein?

Danshi ließ eine rhetorische Pause, bevor er weitersprach, und gab somit Gelegenheit, dass die Zuhörer selber nach einer Antwort suchten. "Ihr habt die Antwort selbst gegeben. Zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gegenden machen die Humaoiden unterschiedliche Erfahrungen. Darin variieren die Stärken der unterschiedlichen Bedürfnisse und auch der Druck zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Da ist es ein Ding der Unmöglichkeit, eine Kultur zu erschaffen, die für jedes Volk angenehm ist und gleichzeitig genau genug ist, um als Orientierungsrahmen zu dienen, und gleichzeitig freiheitlich genug ist, um den herrschenden Bedingungen angepasst zu werden."

Wieder eine Kunstpause. "Dies führt uns wieder zu der Frage, wann eine Kultur als 'übel' angesehen werden kann. Im Umkehrschluß nämlich, wenn sie kein Handlungsorientierung bietet, der Erweckung der humanoiden Wesenheit entgegensteht, wenn sie keine Veränderung erlaubt oder wenn sie die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse des Volkes entgegensteht. Sowohl die Kultur von Chuang als auch die des Reitervolkes sind demnach üble Kulturen. Sie erfüllen nämlich nur die Maxime der Handlungsorientierung.", dabei blickte Danshi entschieden in des Kaisers Augen. Er drückte keine Verachtung, keinen Zorn und keinen Dünkel aus. Es war der Blick eines Mannes, der sich entschieden hatte, auch gegen Widerstand für ein bedeutsames Ziel zu streben.

Dann streckte er die rechte Hand aus, um anzuzeigen, dass er noch einen anderen Aspekt beleuchten würde. "Es gibt noch einen anderen Grund, warum beide Kulturen übel sind. Doch dieser Grund entspringt nicht moralischer, sondern vielmehr praktischer Überlegung: Es betrifft die Überbevölkerung. Versteht mich nicht falsch; jedes einzelne Wesen auf dieser Erde ist einzigartig und wertvoll. Doch wenn wir uns schrankenlos vermehren, dann erkaufen wir dieses Bevölkerungswachstum mit Armut, Völkerhass, Verständigungsproblemen und der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen[5]. Ich erkenne keinen Grund darin, dass in einem Landstrich so viele Humanoide leben, dass sie sich selbst nicht mehr versorgen können und in Folge dessen auf das Korn eines anderen Landes angewiesen sind."
 1. vrgl hier die Achetypen von C.G. Jung.
 2. In der Psychologie hat man mehrmals versucht, die Grundbedürfnisse zu kategorisieren. Rosenbergs Konzept der gewaltfreien Kommunikation geht von Grundbedürfnissen aus, ohne diese zu kategorisieren, was natürlich einerseits Individualität zulässt, doch andererseits ungenau ist.
 3. 1. Korinther 13,13 (Hohelied der Liebe)
 4. Siehe hier.
 5. siehe Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit von Konrad Lorenz
« Letzte Änderung: 11.07.2011, 20:32:45 von Xū Dǎnshí »

Menthir

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« Antwort #279 am: 13.07.2011, 23:37:06 »
05.01.1042 - Tag des Pandas - Früher Morgen

Der Mann wägte eine ganze Weile ab, was er zu antworten hatte und beschloss sogar einen Teil seiner Gedanken hinter einleitenden Worten zu verbergen.  Es wurde deutlich, dass er mit zunehmender Dauer mit seiner Kondition zu kämpfen hatte, leichter Schweiß hatte sich bereits an seinen Schläfen gebildet und doch blieb er noch stoisch stehen. "Xū Dǎnshí, natürlich höre ich euch an und ich könnte gar nicht anders. Die Aufgabe eines Mannes, der den Segen oder die Bürde geerbt hat, aus hohem Haus zu stammen, ist es nicht, die Worte aus dem Volk, von den Verwalter und jenen, die er unter sich wähnt, zu ignorieren. Meiner Ansicht nach ist der Kaiser, der erste Diener seines Reiches[1], dann kommen seine Söhne. Jene, welche die größte Verantwortung tragen, sind die größten Diener. Wollen sie jedoch ihre eigenen Herren sein, verlieren sie den Kontakt zu ihrem Reich. Sie werden schlechte Vorbilder und wenn sie korrupt sind, dürfen sie nicht darüber klagen, dass ihr Reich korrupt wird. Da ich dieses Schicksal nicht teilen möchte, unabhängig von meiner genauen Position in diesem Reich, ignoriere ich die Bewohner, Verwalter und Herren dieses Reiches nicht, sondern ich höre jedem von ihnen zu, wenn meine Zeit und meine Kraft es zulässt."

Er überlegte einen Moment länger, aber er hatte sich in der Zwischenzeit eine Antwort zurechtgelegt. Das Reden half ihm, die Schmerzen in seinen wunden Beinen zu vergessen, weshalb er gerne ausgiebig zu antworten schien. "Wahrscheinlich kann nicht jede Kultur alles beantworten. Das wäre mein Eindruck, denn es ist nicht so, dass man jede Kultur genau von der nächsten abgrenzen kann. Um in eurer Sprache zu bleiben: kulturellen Transfer gibt es immer und überall, er lässt sich nicht verhindern, geschweige denn wirklich auf Dauer eindämmen.", begann er auf die vorgestellten Fragen Xū Dǎnshís zu antworten. "Ich habe nicht unbedingt eine große Ahnung von vielen Kulturen, ich kenne nur jene Flicken, welche sich durch unsere eigene Kultur weben. Xiqu, Elben, Zwerge und so weiter. Aber ich weiß, dass die Kultur, der ich entspringe, nicht nur jeweils einen Weg zur Erfüllung dieser Grundbedürfnisse, wie sie ihr nennt, gibt. Das liegt vor allem daran, dass unterschiedliche Völker ihre Grundbedürfnisse unterschiedlich interpretieren. Es gibt beispielsweise Völker, die meinen, keine Götter zu kennen und legen auf diese Transzendenz keinen Wert, wie die Dvergar. Es gibt Wesen, die keine Liebe kennen, wie die Iarduianer. Aber für die meisten humanoiden Völker dürften eure Begriffe passen. Aber dennoch muss natürlich eine gute Kultur unterschiedliche, erprobte Weisheiten und erprobtes Wissen vermitteln. Und weil Chuang das weiß, gibt es genügend Freiheit zur Selbstentfaltung. Die Missstände werden selten von der Kultur selbst verschuldet, außer dort, wo sie sich durch anderen Kulturen bedroht fühlt und in den kulturellen Krieg geht. Manche werden von einer Kultur sicherlich eingeschnürt, aber ihr selbst, Xū Dǎnshí, kennt viele weise Gelehrte dieser Kultur und haben sie euch jemals den Eindruck gemacht, dass sie euch in Gußform pressen wollten? Wenn ja, liefert mir bitte Beispiele. Wenn nicht, dann glaube ich, dass es an dem Umstand liegt, dass die Kultur dann als würgende Schlinge wirkt, wenn die Kultur als Ganzes von Einzelnen für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Das ist das, was ich mit dem Missbrauch der Lehren Sunzis und Konfuzius unter anderem meinte. Dann wirkt die Kultur einengend, weil man nur die drückenden Stellen des Schuhs betrachtet. Denn Chuangs Kultur lässt Humanoiden potentiell auch die Freiheit, auf ihren Wegen zu versagen, um sie dann aufzufangen.", erklärte der Kaisersohn nun seinerseits und machte ein paar Schritte um den Teppich herum, um sich in Bewegung zu halten und die Beine wieder etwas zu entlasten.

"Euer Fallbeispiel finde ich sehr passend. Wir nehmen schnell das Üble. Und ihr gebt die entscheidende Antwort. Wenn wir in die Details der Kultur Chuangs gehen sollten, würden wir es nochmal sehen. Eine Kultur kann in ihrer Konzeption umfassend sein, wenn unsere Vermittlung der Kultur fehlschlägt, weil sie von Einzelinteressen, Gruppeninteressen und anderen Volksinteressen untergraben oder angegriffen wird oder weil wir unseren Lehrauftrag verfehlen. Deswegen könnten wir lange streiten, wenn wir jeden Punkt betrachten würden und doch immer wieder auf diesen Punkt kämen: wie vermittle ich Kultur und ein Gewicht der Kulturen richtig, ohne dass Zwist, Verbrechen, Verfälschung, Lüge und Verzweiflung folgen?
Ich sehe das als unlösbares Problem an. Die Grundbedürfnisse aller Humanoiden sind eben nicht gleich, sondern nur ähnlich. Und selbst wenn sie gleich wären, sind sie zu situativ und bei der dauernden Ressourcenknappheit auch häufig gegeneinander gerichtet. Die schöne Kui mag drei schwer verliebte Verehrer haben, aber wird sie alle drei gleich glücklich machen können, ohne ihr eigenes Glück zu vernachlässigen? Manche Humanoide möchten über alles selbst bestimmen, andere wollen in Leben in festen Grenzen. Eine Kultur kann nur ein Mediator zwischen den gegeneinandergerichteten Bedürfnissen von Einzelnen, Gruppen und Volkschaften sein. Ihre Verfehlung beginnt dann, wenn sie selbst ein Herr werden will.
Und da würde ich ansetzen, denn ich denke, dass eine gute Kultur auf so breiten Beinen steht, dass sie zu jederzeit ein Mediator zwischen den Humanoiden und dadurch ein einendes Band sein kann. Doch mir ist die Vermittlung ein Rätsel, ein unlösbarer Knoten in meinem Kopf. Aber genau deswegen, weil ich das Wesen meiner Kultur zu kennen glaube, weiß ich, dass sie nach euren Worten keine üble Kultur sein kann. Sie wirkt nur übel, weil die größten Kulturträger sie übel scheinen lassen. Wir beide kennen genug klüge Sätze aus den alten Texten, um das erahnen zu können, oder nicht?"


Er grübelte noch einen Augenblick, mal wieder, aber es war offensichtlich, dass er im Moment einen reaktiven Part eingenommen hatte im Zwiegespräch mit dem alten Beamten.
"Dass wir so viele sind, hat uns erst ein gutes Leben ermöglicht. Häufig sicherlich auf Kosten jener, denen es nicht so gut geht. Die Frage ist, ob dies materieller Wohlstand ist, den wir erstreben oder geistiger Wohlstand. Geistiger Wohlstand reicht, gleichwohl benötigt er noch immer das Decken der Grundbedürfnisse. Ohne die Arbeitskraft von tausenden Bauern, welche Leitungssysteme gruben und Wasser aus der Tiefer der Erde holten, würde Cui Bao auch nur ein verdörrter Landstrich sein. Aber ich bezweifel, dass wir die natürlichen Ressourcen komplett ausbeuten können. Nicht solange der Garten existiert. Ich verstehe jedoch eure Sorge, Chuang versteht sie auch. Deswegen wird häufig über eine Ein-Kind-Politik[2] gestritten, aber auch hier haben wir dann ein Ungleichgewicht. Den armen Menschen tut ihr Leid damit an, wenn ihr ihnen auch noch die Kinder nehmt. Arme Menschen in Chuang haben schwerer Zugang zu Medizin, so sterben mehr Kinder einen frühen Kindstod. Die Zukunft auf dem Land ist auf den Rücken der Kinder gebaut. Das müsstet ihr erst ändern, bevor ihr glauben könnt, dass ihr das Wachstum eines Reiches verhindern könnt. Und selbst, wenn ihr das tätet, wie würde die Welt dann aussehen? Wie, Xū Dǎnshí, würde die Welt dann aussehen? Sie wäre weniger bevölkert, aber deswegen noch lange nicht gerechter." Er ließ diese provokante These einen Moment im Raum stehen.

"Wenn eine Kultur wächst, müssen ihre Mechanismen, Traditionen, Regeln und auch die Kulturträger mit ihr wachsen. Daran scheitert Chuang und darin liegt das Übel in unserer Kultur, aber das macht nicht die ganze Kultur zum Übel. Aber da gebe ich euch zweifelsohne Recht, so viele von uns wählen den üblen Weg. Das ist das, was ich mit der Beobachtung eures Raumes gemeint habe. Wir sitzen hier und philosophieren über Kultur und Freiheit und nicht einer hat sich die Mühe gemacht, zu schauen, wie er die Freiheit ergreifen kann. Stattdessen sitzen wir es aus. Und weil wir nicht als Mediator fungieren, sondern unserer Faulheit, Trägheit oder dem Übel folgen und es aussitzen, entscheide ich mich noch immer für den Kampf gegen Xiqu. Weil ich mich hinter meiner Pflicht verstecke. Und ihr bleibt in dieser Zelle regelungslos sitzen und lasst euch besuchen, weil ihr euch versteckt hinter Hoffnung? Trägheit? Angst? Verzweiflung? Ihr wählt auch das Üble und das wundert mich, Xū Dǎnshí. Dass wir in der Lage sind, solche großen Worte auszutauschen, ob sie richtig oder falsch seien, aber dass wir nicht dazu in der Lage sind, stets etwas gegen unsere Erkenntnisse zu unternehmen? Machen sie uns schwermütig? Sind sie einschüchternd? Oder zu mächtig?"
Seine Augen verrieten, dass er diese Fragen ernst meinte.
 1. Nach Friedrich II. (genannt der Alte Fritz oder Friedrich der Große), der sich als erster Diener des Staates bezeichnete. Der Gedanke ist jedoch älter.
 2. Ein-Kind-Politik
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Sūn Ai

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« Antwort #280 am: 17.07.2011, 13:57:08 »
"Die perfekte Kultur wird es nicht geben."  Sūn Ai platze in das Gespräch der beiden Männer herein, gespannt auf deren Reaktionen. "Es sollte stets, dass Ziel sein eine gute Kultur anzustreben, wie ihr bereits festgehalten habt. Selbst im besten Reich, wird es stets Probleme geben. Jede humanoide Art erbrachte bereits nur vom Bösen getriebene Persönlichkeiten. Stets wird es auch jene geben, die zwar nicht böse sind, sondern auf Probleme aufmerksam machen wollen, für eine bessere Welt, aber dadurch Unruhe stiften. Es wird keine Kultur geben mit der jedes einzelne Individuum sich zu Frieden gibt." Sie machte ihre erste kurze Pause, da sie ihre Position gesicherter fühlte in dem Gespräch.
"Es wird nie vollkommende Gleichheit geben. Wahrlich der Fehler steckt nicht allein in der Kultur. Das allgemeine Bild ist viel zu materiell geworden. Es wird nie ein Reich geben, wo man nicht zwischen Arm und Reich unterscheiden kann. Nie wird jeder gleich viel Land und Diener haben. Die beste Kultur bringt nichts in solch einem Reich, wo die Bevölkerung zu viel Wert auf das Materielle legt.
Die Grundbedürfnisse haben nicht umsonst ihren Namen, dienen sie doch nur als Basis für ein mögliches gutes Leben. Jeder hat weitere  verschiedene Bedürfnisse, welchen man sich widmen möchte, um glücklich im Leben zu werden. Ein armer Bauer kann glücklicher sein, als der Herr, dem das Landgehört. Wenn dem Bauern allerdings die ganze Zeit gesagt wird, wie ungerecht es doch sei, dass er ärmer ist, als sein Herr, wird er keinen Frieden finden. Es belangt aber sowohl der Grund- als auch der weiteren Bedürfnisse, um zu erstrahlen. Eine Kultur sollte also auch zusätzlich die Möglichkeiten bieten, auf jene weiteren Bedürfnisse einzugehen. Das Problem, dass die Grundbedürfnisse durch eine Kultur nicht einheitlich zusättigen sind, bleibt bei den weiteren Bedürfnissen bestehen, obwohl hier die Kultur nicht mal dafür sorgen sollte, dass sie erfüllt sind, sondern nur das sie erfüllt werden können."
Es war deutlich, dass die junge Dame noch nicht häufig über philosophische Fragen diskutiert hatte und es ihr daher schwer viel ihre Gedanken und Meinung verständlich zu übermitteln.
"Ihr sagt es wäre schwierig die Grundbedürfnisse zu bestimmen, da sie sich stark unterscheiden von Volk zu Volk. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es einen gewissen Nenner gibt. Ich kann mir kein Volk vorstellen, dass unzufriedener wird, dadurch dass es sich sicher, geliebt, gebraucht und gesättigt fühlt. Allerdings habt ihr wohl recht, dass sich bereits dort Gefahren auf tun. Jeder der Gedanken, kann sich wandeln und Unruhe stiften. Eine gute Kultur muss daher über die Grenzen hinaus tolerant sein und sich nicht nur um die eigenen Bewohner kümmern, sondern im Generellen um das Leben. So sollte zumindest das Ziel sein, das Problem ist die Trennlinie zu finden. Wenn man alle weiteren Bedürfnisse unterstützt, würde sich bestimmt bald ein Konflikt erheben. Ab wann aber kann man jemanden seine Bedürfnisse verwehren, ab wann zählt jemand vom Bösen getrieben."
Sie machte erneut eine kurze Pause, um zu versuchen ihre Gedanken zu ordnen.
"Die Masse von Chuang hat sich durch die Entwicklung der Technik ergeben. Es war die Intelligenz und das Bewusstsein, welches uns angeblich von den Tieren abgehoben hat. Allerdings ist auch genau jenes für viele Schrecken verantwortlich. Ein Hund der seinen Herren beißt, kann man nicht nicht als Böse bezeichnen, da er nur aus Instinkt gehandelt hat. Erst die Möglichkeit zu überlegen, brachte solch eine Abstufung mit sich. Wenn eine Population zu groß wird, sorgt die Natur selbst dafür, dass sie wieder schrumpft auf eine passende Größe, die ernährt werden kann. Im Falle von Chuang allerdings wird die Natur keine solche Regelung treffen können. Aber auch die Kultur wirkt machtlos, es sei denn sie tritt gegensich selbst an. Jeglichen Gesetze zur Regelung, würden gegen die Regeln für eine gute Kultur gehen. Ein Ein-Kind-Politik würde gegen die geistige Gleichheit sprechen."
Sūn Ai merkte wir ihre Lippen trockener wurden und daher wechselte sie relativ plötzlich das Thema und richtet sie direkt an den Kaisersohn.
"Niemand von uns hat die Zelle durch sucht, eure Beobachtung ist richtig. Was allerdings würde solch eine Durchsuchung bringen. Wir würden die Leute, die uns gefangen halten, verspotten, in dem wir sie für zu dumm halten uns in ein fähiges Gefängnis zu stecken. Wir würden unseren Aussichtslosigkeit und Angst vor dem Tod offenbaren. Wir würden zeigen, dass wir unsere Hoffnung auf Gerechtigkeit verloren haben. Da wir uns alle unschuldig fühlen, es in einer gerechten Kultur keinen Grund für unsere Bestrafung gibt. Sollten wir allerdings wirklich etwas finden in diesem Gefängnis, dass uns hilft unsere Freiheit zu erhalten, so würde es nur noch mehr darauf hinweisen, dass alles hier ein Spiel ist und uns somit in eine Ohnmacht befördern. Denn wenn man ein komplexes Spiel spielt, ohne die Regeln zu wissen, ist man voll kommen machtlos und auf sein Glück angewiesen."
« Letzte Änderung: 17.07.2011, 15:18:39 von Sūn Ai »

Xū Dǎnshí

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« Antwort #281 am: 18.07.2011, 16:37:36 »
Danshi blickte durchaus mit Überraschung zu dem jungen Mädchen herüber, die während der gesamten Zeit der Gefangenschaft doch eher still und abwartend geblieben war. Dass sie sich nun, in dieser Diskussion um ein gutes Leben zu Wort meldete, machte den alten Mann froh. Er sah darin, dass sie sich mit ihrer Umwelt auseinandersetzte, und vielleicht würde sie im Folgenden auch Verantwortung für sich und andere übernehmen. Auch war, was sie sagte, für ihn nachvollziehbar und richtig. Er nickte der jungen Frau lächelnd zu.

Ich freue mich sehr, dass Ihr Euch an unserem Gespräch beteiligt, Sūnsan. Aus dem, was Ihr sagt, schließe ich Folgendes: Nachdem jedes einzelne Individuum die Möglichkeit hatte, seine existentiellsten Bedürfnisse zu befriedigen – das seien Nahrung, Angenommensein und Schutz – bedarf es der Bildung, um seine in sich angelegten Fähigkeiten und humanoidischen[1] Züge zu verwirklichen. Das heißt, das eigene Wesen zu ergründen, die Perspektive anderer zu erfahren, Verantwortung zu übernehmen und seine Umwelt aktiv zu gestalten. Dabei bedarf es Lehrmeister, geschätzter General Chuang Diyan – und zwar die besten, die wir bekommen können. Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Doch mit dem Selbstverständnis, dass diese Lehrmeister stets nur Anleiter für die eigene Weisheit darstellen. Ihr kennt den Ausspruch Laotses: ‚Suche nicht den Lehrer, sondern suche, was der Lehrer gesucht hat‘. Jedem Wesen ist die Verantwortung für sein eigenes Handeln übergeben. Folglich ist es jedem Menschen selbst überlassen, für sein Leben einzutreten oder nicht. Ich verschweige nicht, dass er in einer üblen Kultur mit Repression rechnen muss. Dazu komme ich noch.

Nun sind es maßgeblich drei moralische Gründe und zwei praktische Gründe, warum ich die Kultur Chuangs als eine üble betrachte. Obgleich all diese Gründe miteinander zusammenhängen, wie sich zeigen wird.
Danshi fasste sich mit dem linken Zeigefinger and den rechten Zeigefinger, um anzuzeigen, dass er die einzelnen Punkte auszuführen gedachte. „Der erste Punkt ist der, dass der Prozess der Kulturselektion unterbrochen wird. Dies geschieht im Reich in mannigfaltiger Weise. Am Kaiserhof gilt es mehr, die Werke der Gelehrten zu rezitieren, als selbst Erfahrungen zu machen und Urteile zu bilden, wie unlängst Lü Buwei bewies[2]. Weil durch unser landwirtschaftliches System und die Verödung die Dorf- und Familienverbände zerrissen werden, gibt es keinen Austausch mehr zwischen den Alten und Jungen. Viele Völker leiden darunter, dass ihnen ihre eigene Kultur verboten wird und sie eine Fremde annehmen müssen, die sie dann auch nicht verändern dürfen. Schließlich wird der Mensch auch noch verblendet, nach materiellen Gütern wie sozialem Prestige zu streben, statt eine gute Lebensweise zu verwirklichen, die mit weniger auskommt und gleichwohl unendlich viel reicher ist. Mit diesem Punkt meine ich, das Bewährtes vergessen, Neues blockiert und Verbreitetes als Herrschaftsmittel instrumentalisiert wird. Eine Auswahl nach dem Kriterium, ein gutes Leben zu ermöglichen, geschieht nunmehr viel zu selten.
Danshi ergriff den Mittelfinger. „Der zweite ist die Herrschaftsbildung von oben. Im Moment geschieht es, dass die Herrschenden und Mächtigen versuchen, ihre eigenen Ansichten über die soziale Ausgestaltung aufzupropfen. Dies ist deshalb übel, weil die Herrschenden im Zentrum überhaupt nicht wissen können, wie die Bedingungen und die Bevölkerung in der Peripherie sind. Andererseits verhindert das Regieren von oben, dass sich die Individuen an der Ausgestaltung ihrer Lebensbedingungen beteiligen. Doch genau diese Menschen wären es doch, welche am besten wüssten, was zu einem gegebenen Moment am notwendigsten wäre. Und andererseits werden Anweisungen, deren Notwendigkeit man nicht begreift, bestenfalls halbherzig oder aus Angst, jedoch nie mit Schaffensdrang ausgeführt.
Schließlich fasste er den dritten Finger. „Der letzte ist, dass diese Kultur auf einem wackligen Fundament aufgebaut ist. Ich demonstriere anhand einer Analogie: Angenommen, Ihr seid Astronom und wollt Euch eine Sternwarte erbauen. Nun habt Ihr Euch einen großen Hügel ausgeguckt, der Euren Zwecken so geeignet scheint, dass Ihr die Warnungen Eurer Assistenten in den Wind schlagt, der Hügel bestehe aus Sand. Doch die Rechnung kommt, als Eure Warte droht, abzusacken. Tatsächlich verwendet Ihr Eure gesamte Kraft, Eure Zeit und Euer Vermögen darauf, den drohenden Niedergang abzuwenden, dass Ihr gar nicht mehr dazu kommt, die Sterne zu beobachten. Ebenso erscheint es mir mit dieser Kultur. War sie ursprünglich ein Mittel zu dem Zweck ein gutes Leben zu ermöglichen, hat sie sich so gewandelt, dass sie zum Selbstzweck geworden ist. Immer deutlicher tritt zu Tage, dass diese Kultur brüchig geworden ist – und zwar nicht erst, seit große Teile der Bevölkerung veramt ist, Kriege das Land verwüsten und die Urintrinker das Zentrum vernichten wollen. Umso stärker sind die Bemühungen, die Kultur zu konservieren. Während sich am Kaiserhof mehr Gelehrte tummeln, als man zeitlebens zuhören kann, produziert ein widersinniges landwirtschaftliches System Hunger und Zwist und die Bevölkerung muss mit Gewalt zurückgehalten werden[3]. Die Konservierung unserer Kultur sorgt somit für Zwänge, denen sich sogar die mächtigsten des Reiches unterwerfen. Wie viele Bemühungen sind auf den Zweck gerichtet, das wackelige Gerüst der Kultur zu stabilisieren? Und wie oft wird die Kultur noch als Mittel zu einem guten Leben verstanden?

Diese drei Gründe sind moralischer Natur, weil alle drei dazu beitragen, dass der Einzelne seine Entscheidung, für sich und andere, in persönlicher und als richtig erachteten Weise einzutreten, nicht mehr wahrnimmt.[4] Und dieses Problem betrifft jeden einzelnen von uns.

Danshi zog die drei Finger wieder ein und fasste den kleinen und den Ringfinger. „Die praktischen Probleme sind die bereits angesprochene Überbevölkerung  und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcenausbeutung. Beide bringen Verteilungs-, Versorgungs- und Kommunikationsprobleme mit sich und lässt die Völker zu Rivalen werden. Ich könnte diesen Punkt noch ausführen, wenn Ihr wünscht.

"Nun habe ich meine Kritik ausgedrückt. Und weil ich sehe, was mich stört, verwende ich meine verbliebenen Möglichkeiten, meine Zeit und meine Kraft darauf, Tätig zu sein. Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass ich das Üble ergreife. Das Üble ist für mich kein Naturzustand. Ihr glaubt vielleicht, ich sei 'Utopist', doch wer sich einen 'Realisten' schimpft, glaubt ebenso an etwas. Wenn ich die Wahl habe, dann glaube ich doch eher an etwas Gutes, nicht wahr?", erklärte Danshi und zwinkerte mit den Augen. Es sollte klar werden, dass der letzte Punkt nicht ganz ernst gemeint war. Andernfalls war er auch kein Spaß.
 3. 
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 4. vrgl. Humanismus als reale Utopie – Erich Fromm
 1. Kunstwort in Anlehnung an den Humanismus
 2. Lü Buwai
« Letzte Änderung: 18.07.2011, 16:43:16 von Xū Dǎnshí »

Menthir

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Das liederliche Spiel
« Antwort #282 am: 20.07.2011, 17:32:49 »
05.01.1042 - Tag des Pandas - Früher Morgen

Der Kaisersohn war sichtlich amüsiert über die Reaktion von Sūn Ai. Mit solch einer Reaktion schien er nicht gerechnet zu haben, weshalb die junge Psionikerin dem Militär ein ehrliches Lachen abtrotzte. Er hatte ein angenehmes Strahlen, wenn er die Mundwinkel verzog. Hinter den ernsten Worten und den Schmerzen durch die wunden Beinen, schob sich der augenscheinliche Charakter des Mannes durch, wie die Sonne durch die Wolken nach einem Regenguss.
"Ich gebe euren Worten grundsätzlich Recht, Xiao Sūn." Der Lächeln wollte trotz des ernsten Themas nicht weichen. "Es wird mit Sicherheit niemals eine perfekte Kultur geben, weil es immer Humanoide geben wird, welche sich nicht mit der Kultur identifizieren oder sich absichtlich gegen diese Kultur stellen[1], mit allen damit zusammenhängenden Folgen. Dabei spielt nicht immer nur die Befriedigung der Grundbedürfnisse eine Rolle, obgleich dies für die große Masse gelten dürfte, gerade für jene, welche mit der Erfüllung dieser Bedürfnisse Hilfe brauchen oder sich nur mit Mühe über Wasser halten." Jetzt schwand das Lächeln doch wieder, als er an Leid und das Platzen von persönlichen Träumen dachte. "Es kann sicherlich die Möglichkeit geben, einen gemeinsamen Nenner der Grundbedürfnisse zu finden. Und da ist etwas, wo ich einharken würde. Xū Dǎnshí hat davon gesprochen, dass er tätig werden würde. Das ist mir in dem Sinne nicht bekannt. Sein Einsatz für Cui Bao ja, aber seine Worte umfassen mehr als Dissidententum. Dort wird mehr als die Sorge um Cui Bao verborgen sein."

Er blickte jetzt direkt wieder den alten Mann an. "Eure Worten legen vor allem nahe, dass eine Volksgruppe gegenüber einem Reich immer wieder seine Bedürfnisse kommunizieren muss, dass ein Dorf sich immer wieder seine Bedürfnisse betreffend seiner Volksgruppe gegenüber kommunizieren muss, das Haus dem Dorf und die Kinder den Eltern, vielleicht sogar jeder seinem Nächsten, der ihm ernsthaft dabei behilflich sein kann. Wir haben festgestellt, dass die Lehrer dafür zuständig sind, aber sie nicht alleine, sondern jeder hat auch eine Eigenverantwortung. Dennoch müssen sie, die Lehrer, das auf den Weg bringen. Das wird sicherlich so sein.
Nun, ihr sprecht immer von praktischen Gründen, jedoch fehlt mir noch immer einen Ansatz, wie ich praktisch daraus handeln lernen kann."
Trotz aller Freundlichkeit setzte Chuang Diyan zu einer Kritik an. Er ging inzwischen fast kontinuierlich umher. Entweder hielt er die Schmerzen nicht mehr aus, wenn er an einem Ort stand oder er hatte einen Laufrhythmus gefunden, welcher ihm das Laufen angenehmer machte.
"Überbevölkerung? Was sollen wir dagegen tun? Sollen wir die Bemühungen der Derwydd Cymdeithas einfach so verwerfen oder die unglaubliche Macht des Gartens, des immergrünen Herzens dieses Kontinentes aufgeben, damit wir wirklich alle natürlichen Ressourcen vertilgen können? Sollen wir wieder die Magie zulassen, um mit der Hilfe der Derwydd Cymdeithas die Länder wieder zu begrünen? Sollen wir durch Zucht und magische Manipulation die Tiere auf härtere Klimate anpassen, sodass wir auch Vieh in den Halbwüsten halten können? Oder sollen wir allen verbieten, dass sie sich lieben und vermehren? Sollen wir Cui Bao in Ruhe lassen, damit der Rest verreckt und Cui Bao in Frieden leben kann? Eure Kritik an der Landverteilung ist berechtigt, deswegen ist Cui Bao so wichtig, deswegen sind andere grüne Stellen dieses Landes so wichtig. Und dann sind da noch die Probleme, die wir mit anderen Reichen haben und die Probleme, welche jene mit sich bringen, welche in der Unterwerfung Fremder den Segen für das eigene Land finden."

Der Mann blieb doch wieder stehen und atmete tief durch, Schweiß rann noch immer leicht von seiner Stirn, aber er schien seine Schmerzen für einen Moment vergessen zu haben. "Versteht mich nicht falsch, ich teile viel eurer Meinung und ihr viel meiner, so wie ich das sehe. Aber ich erkenne daraus nicht, wie man ändern kann. Wir tauschen wie die Gelehrten Weisheiten aus und verständigen uns auf sie. Das haben wir gemacht und ich habe es bereits genannt, insofern sind wir noch wie jene, die wir kritisieren. Aber ihr könnt, ebenso wenig wie ich es kann, bisher keine Handlungsweisen aufdecken, wie wir das ändern können. Wir haben beide den mahnenden Zeigefinger des Verständnisses und der Kritik gehoben, doch sitzen wir hoch oben in unserem Elfenbeinturm oder tief unten in unserer Marmorzelle. Wir müssen wissen, wie wir Dinge ändern können, nicht, wie wir Dinge nur benennen. Denn aus dem Benennen alleine ergibt sich keine Handlung. Unsere Worte sind nicht performativ[2]. Dadurch, dass wir uns austauschen, verändern wir noch nicht die soziale Wirklichkeit um uns herum, weil uns der Rahmen dafür fehlt. Und fehlt die Rezeption durch die anderen, durch den Ritus, durch unsere Stellung, durch unsere Möglichkeiten. Ich sehe, dass ihr einen wachen Geist habt, Xū Dǎnshí. Aber aus theoretischer Weisheit, vermag ich, für meinen Teil, nicht praktisch edel und weise zu handeln. Wenn ihr also wollt, dass eure Worte eine gewisse Performanz erreichen, dann müsst ihr mir dabei helfen.", erklärte der Kaisersohn gestenreich und lächelte dann wieder[3].

Sein Blick fiel wieder auf Sūn Ai. "Eure Worte sollten performativ werden, wenn ihr selbst keinen Weg in die Freiheit finden wollt, weil ihr es für unehrenhaft haltet und an die Gerechtigkeit unter Ungerechten hofft. Oder ihr solltet auf die performativen Worte anderer hoffen." Er lachte wieder, als er über die Worte Sūn Ais nachdachte. Er fand sie und ihre Ernsthaftigkeit in dieser Frage urkomisch und vielleicht beneidete er sie auch um ihre Standhaftigkeit. Er hatte die Theorie, dass die Denunzianten vielleicht Toren waren und deswegen nicht flohen, langsam verworfen. Stattdessen schien er wirklich Menschen in der Zelle zu sehen, die mehr als prinzipientreu waren. Das schien ihn zu verblüffen, aber auch zu gefallen.
 1. Vgl. soziales Handeln bei Max Weber bspw. oder härter und deutlicher die Anomietheorie Durkheims, welche auch die von Xū Dǎnshí und Chuang Diyan aufgeworfene Problematik der Ressourcenallokation beachtet, wenn auch mit anderen, weil industriellen, Vorzeichen.
 2. Performanz - Da auch Männer sich manchmal mit feministischer Forschung befassen, noch der Zusammenhang, woher ich jenes kenne: Judith Butler und ihre politische Theorie
 3. 
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« Letzte Änderung: 20.07.2011, 17:39:49 von Menthir »
"Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit." - Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social

Hong Gil-dong

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Das liederliche Spiel
« Antwort #283 am: 22.07.2011, 13:43:09 »
Hong beobachtete den Kaisersohn. Er lauschte seinen Worten und achtete auf die Gesten. Hong belauerte ihn. Die kühle Erde unter ihm erinnerte Hong ständig daran, dass auch sein Gemüt kühl bleiben musste. Keine Massregelung durfte seinem Mund entweichen. Hong wollte auf den richtigen Moment warten. Wie schon zuvor beobachtete er, dass der Fluss der Worte Xū Dǎnshí's einen stillstehenden Berg abtragen und in Bewegung bringen. Der stramme Stand ging in rhytmische Schritte über. Bald wird der Rhytmus auch den Worten des Alten von Cui Bao folgen.
« Letzte Änderung: 22.07.2011, 14:18:16 von Hong Gil-dong »
Bitterer Tee, mit Wohlwollen dargeboten, schmeckt süßer als Tee, den man mit saurer Miene reicht.

Xū Dǎnshí

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Das liederliche Spiel
« Antwort #284 am: 22.07.2011, 16:57:17 »
Mühsam richtete der alte Mann sich auf. Seine Haltung war gebeugt, sein Gesicht fahl. Doch auffallend war der hoffnungsvolle Ausdruck. Die Hände in den Ärmeln verschränkt, betrachtete er solchermaßen den Kaisersohn, der im Kreis hin- und herlief.

Ohne Frage ist unsere Zeit von schwierigen Aufgaben beherrscht. Wir ahnten, dass sich die Dinge in eine Richtung entwickelten, die wir nicht gut heißen können. Und trotzdem übernahmen wir keine Verantwortung. Einige sehen sich einer riesigen Übermacht gegenüber, einige zweifeln an ihren Vorhaben und andere haben darüber resigniert. Ich schließe mich nicht aus und ich verstehe jeden Zweifel. Doch heute bin ich überzeugt: Wer für seinen Glauben nicht mehr eintritt, kann auch nicht mehr frei sein. Vielleicht kennt Ihr das alte Wort:

Kümmer Dich um Dein Leben
und dann kümmer Dich um uns
Schäden können wir beheben,
das ist nicht die Kunst.
Wir müssen etwas bewegen,
sonst bewegt sich nichts.
Es geht nicht nur um Dein Leben,
sondern ob es ein Leben ist.
[1]

Zunächst bedeutet es, dass Ihr versuchen solltet, zunächst mit Euch selbst ins Reine zu kommen. Werdet Euch bewusst, was Ihr seid. Ihr wärt armselig, wenn Ihr nichts weiter als Eure Persona wäret. Doch Ihr seid ein Humanoid[2]. Ihr wollt ernährt werden, Ihr wollt sicher sein und Ihr wollt bedingungslos angenommen werden. Gleichsam kennt Ihr alles, was Euch vom Humanoid-Sein abhält. Ihr verspürt die Ungeduld, die üblen Launen, die Angst und wisst nur zu gut, dass ihr verletzlich seid. Ihr fürchtet, von den anderen nicht mehr akzeptiert zu werden, wenn Ihr nicht ihren Vorstellung entsprecht. Doch Mut bedeutet auch nichts weiter, als entgegen seinen Ängsten für seine Visionen einzutreten. Langmut bedeutet, dem Humanoiden Vorzug vor dem Recht zu geben. Geliebt zu werden, bedeutet, trotz der eigenen Unvollkommenheit willkommen zu sein - oder gerade deswegen. Wünschen wir uns nicht alle, dass uns das zu Teil wird? Doch wer geht den ersten Schritt? Wie schwer tun wir uns damit, es selbst anderen geschehen zu lassen? Wir brauchen Humaoide, die mit sich in Kontakt sind. Und in ihrem Humanoid-Sein sind sie auch mit allen anderen Humanoiden verbunden. Dann fällt die Perspektivübernahme leicht und ihr könnt von Eurem Ego Abstand nehmen, ohne Euch selbst zu verlieren.“, beschwor Danshi den Kaisersohn.

Etwas leiser sagte er: „Ich bemerke doch, dass Ihr Schmerzen habt. Lasst alles fallen, was Euch behindert, humanoid zu sein. Lasst es voll zu, Chuang Diyan!

Er selbst atmete einmal tief durch, denn auch er war ein wenig gerührt. „Wir sind keine Götter; die Schwäche ist uns angegeben. Nicht einmal ein Kaisersohn kann alles zum Guten wenden. Doch dies bedeutet mitnichten, dass wir gar nichts tun können. Vielleicht könnt Ihr nicht alle retten. Doch einige bestimmt! Ihr seht viel Schlechtes und wisst nicht, wo ihr beginnen könnt? Dann fangt irgendwo an. Jede Hilfe ist willkommen und bedeutsam. Der Aufbau ist der Ausdruck des humanoiden Widerstands gegen das Üble. Ich sagte zu den Menschen von Cui Bao: ‚Widerstand leisten heißt, Neues zu schaffen; Neues schaffen heißt, Widerstand zu leisten.‘ [3] Dazu braucht man keine Kreativität und keine Intelligenz; Aufmerksamkeit für sich und andere ist das Gebot der Stunde. Wenn Ihr überlegt, dann fallen Euch genügend Dinge ein, die Ihr ganz konkret tun könnt. Welche sind das, Chuang Diyan?

Er machte ein Pause, um die Wichtigkeit des nächsten Satzes anzudeuten. „Doch zwingt niemandem Eure Gesinnung auf. Ihr könnt die Menschen nicht verändern. Ihr könnt nur die Bedingungen schaffen, dass sie sich selbst ändern wollen.

Danshi hob vor Begeisterung die Stimme. „ Ich spreche von guten Vorbildern, die den Menschen den Sinn eröffnen, Gutes zu tun. Ihr fragt mich, was Ihr Gutes tun könnt und ich sage Euch: Seid einer der ersten unter ihnen! Denkt an das alte Wort: ‚Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.‘[4] Lasst es voll zu, Gutes zu wollen!

Seine Stimme senkte sich und es wurde klar, dass er die Schlussfolgerung ableitete. „Wenn Ihr die Bürger überzeugen könnt, für das Gute einzutreten, bildet sich von unten ein besserer Staat, als Ihr mit einem Dekret von oben jemals könntet.[5]
 1. Söhne Mannheims – Dein Leben
 2. Mit „Humanoid-Sein“ meine ich, was wir in unserem Sprachgebrauch meinen, wenn wir sagen, „Mensch-sein“. „Humanoid“ meint dementsprechen „menschlich“. „Humanoidismus“ wäre entsprechend „Humanismus“, der alle Völker einschließt.
 3. Zitat aus Stéphane Hessels Buch ‚Engagiert Euch‘
 4. bekannter Ausspruch von Seneca
 5. Vielleicht habe ich noch Gelegenheit, diesen Punkt auszuführen. Es geht um das Badewannen-Modell sozialen Handelns.
« Letzte Änderung: 23.07.2011, 16:31:19 von Xū Dǎnshí »

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