Ich denke, dass deine Meinung und dein Empfinden der Geschichtsvermittlung gegenüber die am häufigsten vertretene Haltung ist, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Das gilt sowohl für den Typus jener, welche die Geschichte unnütz finden, weil sie ihr Leben scheinbar (und ich sage ausdrücklich scheinbar) nicht betreffen oder es eben auch ökonomisch keinen Sinn zu machen scheint, als auch für jenen Typus jener Elfenbeinturmbewohner, welche auf den "Unwissenden Pöbel" hinabblicken und nur für eine Gesamtauflage, die 20 Bibliotheken bereichert, forschen. Dasselbe findest du auch im Studium und nach dem Studium in der Beschäftigung mit diesem Fach, aber auch mit der Geschichte in allen Punkten.
Auch die "zwangsvolle Überbeschäftigung" mit dem dritten Reich spielt immer wieder eine Rolle. Dass es dort einen roten Knopf gibt, hat dafür gesorgt, dass ich keine Szenarien in dieser Zeit oder in stalinistischer Zeit leiten würde. Diese Themen sind emotional überladen und das Thema in unserer Runde ist schon stark an der Grenze (erstaunlicherweise habe ich noch keinen Ärger provoziert).
Das heißt, ich sehe und kenne das Problem, was du schilderst sehr gut und empfinde die Problematik ähnlich umrissen. Ich habe für mich persönlich die Entscheidung getroffen, dass Geschichte mehr ist. Geschichte ist deswegen mehr, weil die Hintergründe eben doch wichtig für das Verständnis unserer Zeit sind, du hast auf das Kierkegaard-Zitat verwiesen. Bei uns hieß Geschichte in der Anfangszeit vor allem "Vertragsgeschichte" und später dann Fokus 3. Reich. Erst spät habe Geschichte in besonderer Form zu schätzen gelernt. Mein Oberstufenlehrer kam am ersten Tag in den Raum, stellte sich nicht einmal vor, nahm eine autoritäre Pose ein und sagte:
"Mein Damen und Herren, was wir hier erleben ist Geschichte!" - In der Folge sprachen wir von den damals aktuellen Ereignissen und wie sie unser Leben prägen könnten, dann sprangen wir in die französische Revolution und erfuhren und partizipierten am Zeitgefühl, an den Errungenschaften etc, wie es unser Leben in Sachen Kultur und Politik geprägt hat und wieder war die Frage, wie jene Revolution uns heute noch prägen könnte. Eine Frage, die nie für uns beantwortet wurde, sondern immer selbst beantwortet werden sollte. Dadurch unterschied er sich wahrscheinlich von vielen anderen Geschichtspädagogen.
Das Wissen, in jedem Moment in irgendeiner Form an einem Stück Geschichte zu partizipieren, das gibt einem einen ganz anderen Blick auf den Lauf der Geschichte. Der FAZ-Artikel hat das schön aufgenommen, fand ich.
Aber ich kann dich beruhigen. Kaum jemand hat und wird Geschichte umfassend verstehen, sondern nur Teile und Prozesse, aber nie die ganzen "Geheimnisse". Das hat etwas mit Denktraditionen, Mangel an allen Fakten, Quellenamnesien und dergleichen zu tun. Und trotzdem kann man Geschichte vermitteln. Das Problem ist natürlich, dass es an vielen Ecken an fähigen und vor allem von dem Willen durchdrungenen Menschen fehlt, die diese Tiefenvermittlung übernehmen. Geschichte ist ja deutlich mehr als nur Personengeschichte, nur Prozessgeschichte, nur Vertragsgeschichte oder nur Politikgeschichte.
Du siehst also, ich gebe dir vollkommen recht, dass man Geschichte schmackhaft machen muss. Und da stehen wir aber in der ganzen Republik vor dem Problem, dass die, welche belehrt oder gelehrt werden sollen, in einem reinem Konsumgedanken sind und Geschichte sich derartig nur bruchstückhaft erschließen lässt. Deswegen funktionieren die Panzerdokus bei N24 nicht didaktisch, sondern als platte Unterhaltung. Das gilt natürlich nicht für jeden, der diese Dokus schaut, aber für sehr viele dürfte gelten, dass sie nach einem Arbeitstag unterhalten werden wollen und nicht noch nachdenken, verstehen und in die Tiefe gehen wollen. Das ändert sich meist erst dann, wenn jemand etwas Einschneidendes erlebt hat (eigener KZ-Aufenthalt, Ostpreußenflüchtling, RAF-Opfer oder RAF-Partizipant oder was man noch alles für Beispiele finden mag), doch wie macht man Geschichte für jene ohne direkten Bezug erlebbar? Ich denke, man muss dieses Zitat von Kierkegaard zum einen erfüllen und zum anderen auch jenes, welches mein Lehrer nutzte. Man muss sich klar machen, dass der jeweilige Zustand teils von der Geschichte geprägt ist und diese zu verstehen hilft, unsere Probleme zu verstehen (auch wenn Geschichte alleine zum Zweck für die Zukunft zu lehren auch nicht reicht, obwohl das in unserer progressiven Denktradition steht. Nach dem Motto: "Es wird immer besser, weil wir aus Fehler lernen.") - Davon ausgehend kann man sich dann auch individuell bilden, aber es geht bei Schule und Lehre ja vor allem um einen Wissenskanon und die Vermittlung grundlegender Kompetenzen, aber bei allen handwerklichen Kompetenzen fehlt vor allem jene, die Bedeutung von Geschichte zu verstehen oder zumindest ansatzweise nachvollziehen zu können.
Und ich denke, das fehlt auf fast allen Seiten. Man sieht viele junge Menschen, die sich nicht wirklich für Demokratie begeistern und wenn auch nur für populistische Vorstöße. Obwohl man sich eigentlich mit der Situation identifizieren könnte, ist die Wahrheit ja eher jene, dass wir ein eskapistisches Leben führen. Wir konsumieren, wir schlafen, wir lernen das Notwendigste, und das vor allem beruflich spezifiziert. Nebenbei erhalten wir uns einen bisschen moralische Selbstüberlegenheit, wenn wir über Wulffs Vorteilnahme schimpfen wie Rohrspatzen, aber zu dem Einsatz von Söldnern für die deutsche Armee aussschweigen und kaum drüber berichten. Wir zeigen schockierende Bilder von hungernden Afrikanern, um modernen Ablasshandel (Das sind viele Spendenfirmen ja leider
) zu finanzieren, aber wir sprechen nicht über die armen Säue unserer Gesellschaft etc. pp.
Wie also bringt man dieses, wenn man das zu verdrängen versucht (aktiv als auch passiv durch unser Lebenssystem), wieder in einen Rahmen, der ausreichend interessant ist? Ich habe kein Patent dafür, aber ich selbst bastel selbst daran, erste Schritte zu finden. Meine Idee war es, die Identifikation mit dem Zeitgeist, in das teils eskapistische Hobby zu bringen. Daraus entstand unter anderem diese Runde. Einfach einen Reflexionsrahmen spannen, denn das ist für jedes Fach wichtig. Wir kennen das aus der Schulzeit ja durchaus auch, dass wir alles jenes, welches wir uninteressant fanden ohne es zu hinterfragen, in Gesprächen als "unnütz" gebrandmarkt haben. Bei mir war es höhere Mathematik bspw. oder Gegenwartsliteratur im Fach Deutsch.
Es ist also letztendlich einfach nur die Umkehrung der immer vorweggenommene Erklärung: "Was bringt mir Geschichte?" - Die Antwort ist bekanntlich bei vielen "Nichts!". Meine Hoffnung ist, Menschen dazu anzuregen, sich diese Frage nochmal zu stellen und sie nicht nach Bauchgefühl und Lust zu beantworten, sondern sie ernsthaft zu betrachten. Ich animiere deswegen Kommilitonen und Schüler u.a. auch dazu, die Lehrer mal offen auf dieses "Nutzlosigkeitsproblem" anzusprechen. Die fiese und perfide Sinnfrage zu stellen. Ein Didaktiker sollte sich diese Frage schließlich schonmal gestellt haben. Ich stelle mir die Frage auch häufig und man muss sie auf jede Fragestellung in der Geschichte sicher unterschiedlich stellen. Die ganze Menschheitsgeschichte lässt sich sicher kaum über einen Kamm der Unnützlichkeit scheren.
Ich versuche Geschichte auch dadurch greifbar zu machen, dass ich Zeitzeugengespräche suche und Menschen animiere, auch selbstständig Geschichte zu erfahren und nicht nur zu konsumieren. Und zu guter Letzt glaube ich wirklich daran, dass wir in jedem Moment Geschichte erleben. Das Geheimnis ist, dass wir sogar sehr direkt daran partizipieren können, wenn wir nur wollen. Dieses Gefühl zu wecken ist natürlich ein sehr schweres Unterfangen, aber das macht es zu einer solch spannenden Aufgabe.