6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 03:08 Uhr - Am Hafen
Der Oberstwachtmeister blickte verdutzt und auch ein wenig angefressen drein, als hätte er sich den Ausklang des Abends nicht so vorgestellt. Das Absperren des Hafenareals hätte wahrscheinlich seine letzte Amtstat für die Nacht sein sollen, ehe er sich endlich, und zumindest aus seiner Sicht verdientermaßen, in die Waagerechte begeben konnte und die Probleme für ein paar sanfte Stunden Probleme sein ließ. Es kam, wie es so häufig war, anders als man dachte und sein Blick machte klar, dass er es bereute, dass er diese Aufgabe direkt mit übernahm, statt das Sperren des Hafens einfach nur zu delegieren. Was auch immer ihn dazu gebracht haben mochte, er fluchte innerlich über diesen Umstand. Er legte die Hände auf die polierte Gürtelschnalle und klemmte die Daumen hinter den Gürtel, sein massiver Bauch bebte bei dieser Bewegung. Er hörte sowohl Alfred Nobel, als auch gerade Carl von Lütjenburg äußerst angespannt zu. Es war schwer zu sagen, ob es seine Überraschung, die Waffe in Carls Händen oder die langsam zurückkehrende Süffisanz beim Braunschweiger war, welche ihn angespannt wirken ließ.
Diese Anspannung ließ sich in seinen Worten erkennen.
"Stecken Sie die verdammte Waffe weg und kommen Sie zurück auf den Teppich, Herr Leutnant!", blaffte der Oberstwachtmeister den Leutnant erstaunlich heftig an und er wirkte einen Moment ob seiner eigenen Lautstärke erschrocken. Deswegen sprach er in normaler Lautstärke weiter.
"Herr Nobel wirkt wirklich nicht so, als würde er Sie gleich überfallen oder in Angesicht einer ganzen Horde von Soldaten eine verzweifelte Flucht versuchen. Ganz im Gegenteil, wenn Herr Nobel sich ihrer Gnade ergibt, weil der Mann an der Kutsche Ihnen nicht vertrauenswürdig wirkt, warum halten Sie dann ausgerechnet dem Herrn Nobel eine Waffe in den Rücken? Lernt man in Preußen keine Verhältnismäßigkeit mehr? Also, Herr Leutnant, wir sind hier nicht in Paris. Wir schießen hier nicht mit Zwölfpfündern[1] auf Spatzen!", führte der Oberstwachtmeister aus, wobei sein Bauch vor Aufregung wippte. Er blickte dennoch trotzig zum Schwarzen Braunschweiger und reagierte verschnupft, nachdem er die Worte von Carl und Alfred gehört.
"Ein Haftbefehl, soso. Ein Haftbefehl für einen Mann, der sich auf meinem Gebiet befindet und in meinem Lazarett eingekehrt ist. Das dürfte Ihnen mehr als bekannt gewesen sein. Dann frage ich mich jedoch, warum sie nicht den kurzen Dienstweg angetreten haben, wenn Sie schon einen Haftbefehl des Herzogs in ihrer Tasche haben?" Van Widdendorps Knopfaugen schauten auffordernd zu dem Mann in der schwarzen Uniform. Zu allem Überfluss begann es wieder zu regnen stärker zu regnen, der Wind blieb jedoch nur ein Lüftchen.
"Ich habe die Worte Ihres Leutnants gehört und bin bereit mich dazu zu äußern.", sagte der Major überraschenderweise und blickte dem Leutnant nochmal scharf in den Rücken, während sein Gesicht inzwischen wieder der Inbegriff des süffisanten Ausdrucks war. Seine Mundwinkel zogen sich sanft in die Höhe, er legte eine Aura der Arroganz um sich.
"Sie sehen, Herr Oberstwachmeister, dass Ihre zweifelsohne stattliche Gestalt und die Unsicherheit seiner Tat Ihren Leutnant völlig in übertriebene Demut wirft. Einen Unbewaffneten, der sich ergibt, mit einer Waffe wegzuführen, nur noch Ihren Titel zu stammeln, statt zu den zentralen Inhalten unseres kleinen Disputs zu kommen, das spricht für eine ausgewachsene Nervosität. Natürlich sehe ich auch die schmallippigen Beleidigungen des Leutnants, die er sich nur in der absoluten Gewissheit Ihres Schutzes getraut. Das sind drei Punkte, welche den durchschnittlichen Offizier wachrütteln sollten. Obzwar er durchaus mit Recht angibt, dass eine Uniform allein keinen Soldaten macht, ist es auch mit Sicherheit so, dass ein Name auch noch keinen Soldaten macht. Ich werde über seine despektierliche Verfehlung für den Moment hinwegsehen."Der Braunschweiger hatte bereits wieder den Haftbefehl hervorgeholt und sich von der Kutsche entfernt. Er ging festen Schrittes zu dem Oberstwachtmeister und hielt ihm den Haftbefehl unter die Nase. Die sportlich, schlanke Gestalt des Majors und der dickliche Korpus des Oberstwachtmeisters auf seinen Stelzenbeinen, unterschiedlicher konnten sie kaum sein. Der Major ließ den Oberstwachtmeister einen guten Blick auf die ganzen Details seiner Uniform werfen, vor allem auf den silbernen Totenkopf auf der Mütze.
"Wenn Sie meinen Namen brauchen, nur zu, fragen Sie. Ich bin mir sicher, dass Sie das möchten. Da können Sie doch jedem Fremdling noch einen Auszug aus meinem Leben geben und jedem gleichzeitig versichern, dass ich eine hehre Figur seiner Durchlaucht bin.", spottete der Braunschweiger und starrte den Oberstwachtmeister einfach nieder. Dieser ging einen Schritt zurück. Alfred und Carl konnten deutlich erkennen, dass Schweiß seine Stirn hinunter lief, als hätte er einen Geist gesehen.
Donald und Hermene waren der Situation hingegen etwas entrückt, oder zumindest schien es von Seiten der Schwester so, welche die Situation sehr passiv abwartete, während der Schotte sich ein wenig aus dem Sichtfeld der Situation zurückzog. Schnell öffnete er den versiegelten Brief von Baker und breitete ihn aus. Es war ein Akt, den Brief vor Regen zu schützen und ihn gleichzeitig unter genügend Licht lesen zu können, doch Donald Munro konnte den Brief dann doch lesen.
Ein merkwürdiger Brief mit einer verschlüsselten Botschaft. Wahrscheinlich das Letzte, was dem Söldner noch gefehlt hat. Doch er hatte auch jetzt eine konkrete Anweisung, was er hier noch zu tun hatte. Es ging also nicht nur darum, einen Handelsvertrag zu schließen, sondern scheinbar mussten die Nobelbrüder erst einmal beschützt werden, ehe man mit ihnen verhandeln konnte. Oder es war der dezente Hinweis, dass Donald als Schutzfaktor, ob notwendig oder nicht, die Nobels vielleicht milder in den Verhandlungen werden ließ? Die Situation stellte sich eher bedrohlich dar. Aus irgendeinem Grund merkte Donald, dass seine Hand zitterte.
Doch van Widdendorp fasste sich schnell wieder und fühlte sich zutiefst beleidigt durch das Auftreten des Schwarzen Braunschweigers.
"Sie mögen mir vielleicht verbieten, über Sie zu sprechen, Herr Major und vielleicht würde der Herzog, wenn ich ihn fragte, ebenso reagieren. Vielleicht würde er Ihr Auftreten begrüßen. Aber ich mag es nicht, so offensichtlich beleidigt und eingeschüchtert zu werden. Schon gar nicht, von Soldaten, die mir im Rang nicht überstellt sind."Van Widdendorp schnappte sich mit verblüffender Behändigkeit den Haftbefehl und las ihn sich nochmals durch und sagte nach einer Weile, immer noch sehr verschnupft.
"Es ist nicht geregelt, wo er Nobel interniert wird. Insofern hat der Leutnant Recht, Herr Major. Ich schlage also vor, dass Sie alles weitere mir überlassen und das Hafenareal verlassen. Jenes wird nämlich gerade gesperrt. Einen guten Abend."Der Bauch des Oberstwachtmeisters wippte, als er die Führung Alfreds zu übernehmen gedachte und den Haftbefehl bei sich behielt.
"Es wird Sie sicher nicht stören, wenn ich dieses Dokument verwahre, um Nobels Internierung offiziell dem Herzog zu melden."Widdendorp nahm Alfred am Arm und ging los. Jeder, der sich zum Braunschweiger umdrehte, sah jedoch, dass er zwar nicht antwortete, jedoch ein hinterhältiges Grinsen auf den Lippen hatte, als dieser sich zur Kutsche umdrehte und darauf wartete, wer ihm jetzt als zu ihr folgen würde.