6. Dezember 1863 - Am Vorabend des Krieges - 21:17 Uhr - Frau Borggrefes Haus, Unter Arrest
Emil blieb ruhig nach dem kurzen Anfall, den er noch im Beisein von Doktorkern und des Soldaten van Widdendorp hatte. Seine Atmung hatte sich weitestgehend beruhigt und er dämmerte wieder vor sich hin, während Alfred sich zurecht fragte, warum man nur die Arbeit eines Feldschers an seinem Bruder durchgeführt hatte. Hatte die Garnison keine anderen Möglichkeiten? Vielleicht gab es einen guten Grund, solch diffiziele Methoden nicht an seinem Bruder zu nutzen. Magie war etwas, welches nie ohne Preis und nie ohne Aufmerksamkeit genutzt wurde. Vielleicht war es eine Sicherheitsvorkehrung, denn Alfred erinnerte sich an solche Vorkehrungen in Kronstadt, wo jedem magiebegabten Soldaten und Arbeiter die Nutzung der Magie untersagt war. Dunkel erinnerte er sich daran, dass die Nutzung von Magie noch über Sekunden bis zu Stunden später festgestellt werden konnte. Man fürchtete sich immer vor feindlichen Agenten in Kronstadt, welche die Verteidigung durchbrechen konnten, wenn sie Wissen über Kronstadt erlangten. Alfred hatte sogar mal von einer Erschießung eines Soldaten gehört, der sich weigerte, auf die lebenserleichternde Magie im soldatischen Alltag zu verzichten. Aber an sowas zu denken, war sicher eher ein Anzeichen von Paranoia, wozu sollte man Emil deswegen einen einfachen Heilzauber vorenthalten? Wahrscheinlicher war, dass sie nach dieser Nacht mit den vielen, vielen Verletzten und Sterbenden keine Ressourcen mehr übrig hatten, um ihre Heilzauber jedem angedeihen zu lassen.
Langsam stieg die Raumtemperatur wieder und mit jedem gewonnen Grad ruhte Emil wieder etwas ruhiger. Das Knistern des Holzes wirkte entspannend und so fühlte Alfred beim Herstellen der Mittelchen die Schwere des Alkohols noch immer in seinen Gliedern. Es war dieses typische Unwohlsein, welches man nach einer durchzechten Nacht hatte. Es ging einem nicht furchtbar schlecht, aber man fühlte sich müde, etwas erschöpft und nicht gerade beschwingt. Alfred musste seinen Willen aufwenden, um konzentriert zu arbeiten, aber es gelang ihm. Die nur leidlich dichten Fenster entpuppten sich eher als Segen, denn die unregelmäßigen, scharfkalten Windzüge hielten den schwedischen Chemiker konzentriert.
Nach wenigen Minuten waren die Mittel fertig und trotz des nun ruhigeren Schlafes, wollte Alfred kein Risiko bezüglich seines kleinen Bruders eingehen. Das Mittelchen gegen die Krankheit gab Alfred seinem Bruder zuerst, um möglichst schnell das Wundfieber zu senken und den beginnenden Wundbrand
[1] aufzuhalten. Augenblicklich senkte sich die erhöhte Temperatur Emils, zwar konnte Alfred dabei nicht sagen, welche Art des Wundbrandes es geworden wäre, aber es war klar, dass das dreckige, mit Pocken
[2], Algen und Muschelresten versetzte Holz seine Spuren im Körper seines Bruders hinterlassen hatte, dazu noch das Salzwasser. Er tat gut daran, seinem Bruder dieses Mittel einzuflößen. Nachdem das Mittelchen die Krankheit aus dem Körper gespült hatte, verabreichte der Chemiker seinem Bruder das Heilmittel, um die abgestorbenen Gewebeteile verschwinden zu lassen und die Nähte unnötig werden zu lassen. Dazu nahm er das Verbandmaterial vorsichtig ab und entfernte mit dem Verabreichen des Heilmittels die Nähte, damit sie nicht schmerzhaft in das genesende Fleisch einwuchsen. Das Werkzeug, welches der Doktor hinterlassen hatte, war äußerst hilfreich bei dieser Arbeit. Der Schwede konnte richtig zuschauen, wie das Gewebe sich langsam schloss und dann die Hautschichten sich Stück für Stück regenerierten bis nur noch eines fleischigrosane Narbe an die fast zwanzig Zentimeter lange Verletzung erinnerte. Alfred konnte sehen, dass Doktor Kern auch mit beschränkten Mitteln sehr gute Arbeit geleistet hatte. Sein Bruder hätten fast sein Bein verloren, was bei dieser Wunde nicht verwunderlich war. Zum Abschluss verabreichte Alfred die letzte Medizin, welche ein stärkendes Mittel war, welches die Muskelfasern wieder stärkte, den angeschlagenen Knochen stabiliserte und Emil dabei helfen würde, sein Bein alsbald wieder voll belasten zu können. Ohne diese Anwendungen hätte die natürliche Genesung einer solchen Verletzung mindestens zwei bis drei Wochen gedauert, dank der Kenntnisse Alfreds war es eine Frage von wenigen Minuten.
Dennoch durfte sich Alfred keine Illusionen machen. Sein Bruder würde die Nacht schlafen müssen, ehe er wieder bei Kräften war. Sein Körper war von dem Fieber erschöpft gewesen, dann der aufregende Todeskampf, die Operation und der viele Blutverlust durch die Verwundung und die Operation. Wahrscheinlich steckte ihm auch noch der Untergang der Solros in den Knochen. Den Schlaf würde Emil brauchen und sein Körper nahm sich den auch. Emil schlief endlich tief, ruhig und richtig fest. Während Alfred sich zufrieden in den Sessel der alten Borggrefe zurücklehnen konnte und das erste Mal die Sorgen um seinen Bruder von sich schieben konnte, der gar zufrieden zu schnarchen begann, spürte Alfred, wie sich das Vertrauen, graviert in seinen Ring, erwärmte. Die Stimme war deutlich, aber etwas näselnd, als sei die Person erkältet oder hätte zumindest eine laufende Nase.
"Herr Nobel, Herr Nobel, hören Sie mich? Himly hier. Hören Sie mich? Wie geht es Ihnen? Sind sie allein?"