Zitternd und hilflos ragte noch immer Sezairs Hand nach vorne, welche das junge Gesicht des strengen Mannes nicht berühren konnte. Seine Lippen bebten im stummen Bitten und Flehen, und seine Augen hatten ihr Funkeln verloren. Lediglich die unbarmherzige Sonne glitzerte in den nassen Tränen an seinen zerfurchten Wangen wider.
Reglos hörte Sezair den jungen Mann sprechen, doch verstand ihn nicht. Auf seiner langen Reise war er so vielem begegnet, das er nicht zu verstehen vermochte. Sprachen und Kulturen gehörten ebenso dazu wie Konflikte und Gefühle der Menschen auf dieser Welt. Doch neugierig war der Alte immer geblieben, in der Hoffnung, dass der Herr ihm die Augen zu seiner Zeit öffnen wurde. Doch dieses Unvermögen zu Verstehen, als er vor jenem jungen Menschen stand, den er sein halbes Leben lang gesucht hatte, brach nahezu das Herz des alten Wandernden.
Ungeschickt fiel Sezair der Wanderstab aus der Hand, als der junge Mann sich von ihm entfernte, und er ihm unbeholfen einen erschrockenen Schritt hinterhertat. Tief und schwer atmete Sezair plötzlich, der Mann, der sonst die Ruhe und Beständigkeit eigens hatte. Seine Füße verirrten sich im Sand, seine Tritte verfehlten den Boden und Sezair stürzte stolpernd zu Boden. Auf Knien lag er vor den Füßen der Gefährten, die Pose erinnerte an die Niederwerfung im Gebet, in welcher seine Begleiter ihn sonst kannten.
Damals, in jener Nacht, nachdem er seine Frau und Familie eigenhändig der Erde wiedergeben musste, verlor der Fischer seinen Glauben. Er war nie ein Mann gewesen, der seinen Gott fürchtete, doch auch keiner, der ihn lobpreiste. Er verrichtete sein wöchentliches Gebet, ehrte seine Älteren und feierte seine Feste, doch das predigen ließ er dem Priester des Dorfes. In jener Nacht, als seine Liebsten brannten, verwünschte er seinen Herrn. Die starken Arme, der kräftige Körper, das junge Gesicht Sezairs waren mit Schnitten und Bränden von zerbrochenem Glas und brennenden Hausfassaden übersät, als er über den Gräbern seiner Familie weinte. Zornig weinte er bittere Tränen auf die feuchte Erde, unfähig, das über ihn gekommene Schicksal zu verstehen. Klagend hallten seine Schreie gegen die Bergfelsen des Dorfes. Doch trotz seiner Kraftlosigkeit stieß der junge Fische sich von dem Boden und fand sich auf seinen Beinen wieder. Mühselig und mit einem brennenden Verlangen nach Antwort kämpfte er seinen schwachen Körper zu dem verbrannten kreisrunden Tempel auf der Anhöhe des Dorfes. Der Gebetsturm war zu Boden gestoßen und seine Steine erstreckten sich bis an den Hand ins Meer hinunter. Die Kuppel der Moschee war eingestürzt, und der weiße Marmor des Bodens in Asche gehüllt. Ungläubig reckte Sezair den Kopf in den Sternenhimmel, der Sturm hatte sich verzogen. Fassungslos und zornig schrie er den Sternen entgegen. Was war das für ein Gott, der erlaubte, dass solch ein Elend den Unschuldigen des Dorfes widerfahren musste? Was war mit den Versprechungen der Güte und Allmächtigkeit? Was bedeutete es, einen solchen Herrn zu lieben, wenn dieser seine Augen gegenüber seinen Kindern verschloss? Mit heiserer Stimme schrie Sezair die Worte in den Himmel, und wenn seine Stimme sich überschlug, schossen ihm noch weitere Tränen in die Augen.
Müde und erschöpft rang Sezair nach Luft, den Kopf noch immer in den Nacken gelegt, zu keinem Wort mehr fähig. Sein Körper war kurz davor, sich seinem Zorn zu ergeben und der Wut zu erliegen. Doch in diesem Moment der bitteren Still war es, als der Fischer plötzlich geblendet zu Boden stürzte. Seine geschlossenen Augen sahen ein unerbittliches Leuchten, seine dröhnenden Ohren wollten bei den tosenden Klängen zerbersten. Auf seinen Knien lag Sezair auf dem äschernen Marmorboden, so, wie er einst an seinen Herrn gebetet hatte. Überwältig und übermannt fühlte Sezair nur noch den letzten Schrei des Himmels, als er sein Bewusstsein verlor.
Wie in jener Nach fühlte sich Sezair, als er in dem Sand auf Knien weinte. Kraftlos und erschöpft, doch mit etwas solch fremden, besonderem berührt, das er sonst nicht kannte. Als er damals am nächsten Worte wieder zu Bewusstsein kam, brannte ihm ein Gedanke in seinem Kopf wider, den er nie vergessen vermochte. Er wusste, dass der Gedanke kein einfacher war, und er wusste, dass er ihn nicht selbst gedacht hatte. Damals hatte er einen Befehl erhalten, ein solcher, der ihn auf eine Reise schickte. Nun fühlte es sich so an, als sei er am Ende seiner Reise angekommen.
Sezair rührte sich nicht, als er auf dem Boden kniete. Der alte Mann schien gebrochen, als wäre er am Ende seiner Kräfte. Nur noch ein tiefes Schluchzen seiner sonst so warmen Stimme klang ein letztes Mal durch, ehe er unter zwei dunkel gekeuchten letzten Worten seine Besinnung verlor.
"Mein... Sohn...?"