Als Silivros das Päckchen öffnete, stellte er vor allem fest, dass, wer auch immer es verpackt hatte, sich größte Mühe dabei gegeben hatte. Den Inhalt zutage zu fördern, war eine richtige Herausforderung. Schließlich aber gelang es dem Halbelfen, und er erblickte zwei Dinge: Einen bronzenen Schlüssel, etwas länger als sein Zeigefinger, und - zu seiner Erleichterung - einen Brief.
Nach einem Moment des Zögerns entfaltete er das Papier und begann zu lesen. Die Handschrift war kunstvoll geschwungen, und doch gut leserlich - offenbar war der Schreiber jemand, der eine gute Bildung genossen hatte.
An den geschätzten Herrn Sílivrós Rhíw zur Zwillingswacht,
sicher seid Ihr, werter Herr, verwundert, wer euch diesen Brief schicken möge. In der Tat, ihr kennt mich nicht, noch kenne ich euch, jedenfalls nicht persönlich. Und doch, ich suche nach euch bereits seit dreißig Jahren.
Es war ein Tag am Ende des Monats Sonnentau. Ich war noch ein junger Mann, jünger noch, als ihr es heute seid. Es war sehr früh, die Sonne stand noch kaum am Himmel, und mein Laden war das wohl einzige Gebäude in der Stadt, dessen Türen offen stand. Eine junge Frau kam herein, wunderschön und von elfischer Herkunft, soweit ein einfacher Mann wie ich dies zu bewerten weiß. Sie schien verzweifelt, und bat mich um Hilfe. Als ich sie hereinbat und erfragte, was geschehen war, erzählte sie mir die nachfolgende Geschichte.
Sie und ihr Geliebter seien verfolgt worden, von einem Schurken, der ihnen nach dem Leben trachtete. Sie behauptete, etwas Schreckliches herausgefunden zu haben, das sie um jeden Preis zu verhindern gedachte. Sie wollte mir aber nicht verraten, was es war, um mich nicht zu gefährden.
Ich bin mir bewusst, dass diese Erzählung recht wild und abenteuerlich klingt, und ich überlasse es euch, ob ihr die Geschichte der jungen Frau glaubt - ich versichere euch nur, dass sich die Dinge für mich so zugetragen haben. Doch nun zu dem Punkt, der euch diesen Brief eingebracht hat - denn die Geschichte der jungen Frau war noch nicht beendet.
Sie berichtete, dass sie und ihr Geliebter ein Kind hatten - einen Säugling, den sie erst wenige Wochen zuvor zur Welt gebracht hatte. Bei der Geburt des Jungen entschlossen sich die Eltern, das Kind in die Obhut einer Amme zu geben, da sie fürchteten, es würde die vor ihnen stehenden Gefahren nicht überleben. Sie nannte mir den Namen und den Geburtsort der Amme, doch wusste sie selbst nicht, wohin die Frau ihr Kind gebracht hatte. Und sie bat mich, nach dem Jungen zu suchen, für den Fall, dass sie selbst dazu nicht mehr in der Lage sein sollte.
Und ich sollte Sorge tragen, dass das Kind einen Schlüssel erhält - ihr habt es sicher bereits erraten, es ist der Schlüssel, der dem Paket beilag. In der Stadt Osthafen sollte das Kind damit eine versteckte Truhe öffnen können, verborgen unter dem Grabstein der Frau, die Osthafen einst groß gemacht hat. Dort sollte das Kind erfahren, wer seine Eltern waren, und weshalb sie gezwungen waren, ihren geliebten Jungen der Amme zu übergeben, auf dass sie eine neue Heimat für das Kind suchte.
Ich gab der Frau das Versprechen, nach dem Kind zu suchen, doch musste ich feststellen, dass die Amme, kurz bevor ich in ihr Dorf kam, gestorben war. Sie hatte eine Spur hinterlassen, auf dass man euch finden konnte, doch war die Spur äußerst schwer zu finden. Erst vor einem Jahr erhielt ich den Hinweis, dass dieser Junge in der Tiefen Wacht lebte. Und erst vor wenigen Monaten erhielt ich den sicheren Beweis, dass die Spur der Amme zu euch führte, zu dem Mann, der heute Sílivrós Rhíw genannt wurde.
Entschuldigen möchte ich mich, dass ich euch diese Kunde und den Schlüssel nicht selbst überbringen kann, doch habe ich heute nicht mehr die Kraft und die Gesundheit, eine solche Reise selbst auf mich zu nehmen. Solltet ihr aber euren Weg nach Grenzheim finden, so seid ihr jederzeit eingeladen in mein Heim.
Es ist nun euch überlassen, was ihr mit diesem Bericht und dem Schlüssel zu tun gedenkt. Mein Versprechen ist erfüllt, wenn ihr den Brief gelesen habt.
Ich wünsche euch alles Gute.
Hochachtungsvoll,
Tender Varasi
Buchhalter, Grenzheim