Abraham betrat mit mühelos leichten, fast schwebenden Schritten das Haus, als Kendra Lorrimor ihn hineinbat. Dem Mann, der der jungen Frau an die Tür gefolgt war, nickte er grüßend zu. Sie hatte sich mit ihrem Mädchennamen vorgestellt, der andere konnte also nicht ihr Ehemann sein. Wer hielt sich dann nach dem Tod ihres Vaters bei ihr auf? Ein Schelm, der Böses dabei dachte. Doch Abraham ging so etwas nichts an. Er war aus einem anderen Grund hier, als um in Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln, aber wie sich herausstellte, waren Kendra und der Fremde, den sie ihm kurz darauf unter dem Namen Samuel bekannt machte, nicht zu zweit im Haus gewesen. In der Küche erwarteten den Dhampir drei weitere Männer, die ihn mehr oder minder misstrauisch bis unterschwellig feindselig beäugten. Nicht, dass es ungewohnt war, dass die Menschen ihm derart begegneten, aber einer von diesen hier schien zumindest Pharasmit zu sein, was die bestehende Spannung entweder lösen oder verstärken würde – immerhin war es bei Dienern Pharasmas wahrscheinlicher, dass sie seine nur halb-lebendige Natur erkannten als bei anderen Sterblichen.
Höflich hörte er zu, wie sich die Anwesenden – offenbar alle Erben des verstorbenen Professors – vorstellten. Dass so etwas eher kühl und distanziert über die Bühne ging, war in Ustalav nichts Ungewöhnliches, und kurz war Abraham versucht, die Anwesenheit des Leibwächters des Professors gesondert zu kommentieren (immerhin schien dieser seine Arbeit nicht besonders gewissenhaft erledigt zu haben, auch wenn Abraham die genauen Umstände des Todesfalls nicht bekannt waren), doch das verkniff er sich, vorausschauend, dass das seiner eigenen Sache nicht dienlich sein würde. Jedoch säuerten ihn besonders die Worte des Alchemisten ein wenig an, die Abraham zur Eile drängten und mit denen er ihm zu verstehen gab, ihn am liebsten schnell zwischendurch abspeisen zu wollen. Abraham konnte nicht von sich behaupten, der Geduldigste zu sein, wenn man ihm wenig Respekt entgegenbrachte.
„Es heißt van Helsing“, korrigierte Abraham zunächst die falsche Aussprache seines Familiennamens mit dem Zusatz „von“, was er nicht derart hinnehmen konnte. Dennoch blieb er höflich.
„Sehr erfreut, Euch kennenzulernen, Gentlemen“, fuhr er mit einer knapp angedeuteten Verbeugung fort, die viel weniger ausladend war als die gegenüber Miss Lorrimor gerade eben an der Haustür, „aber ich glaube, Ihr missversteht den Grund meines Hierseins. Ich bin nicht gekommen, um Neuigkeiten zu übermitteln, seien es gute oder schlechte. Ich bin kein Bote“ – war dies nicht offensichtlich, wenn man sich sein Äußeres betrachtete? – „sondern mehr oder minder eigenständig angereist und soeben erst in Ravengro eingetroffen. Ich habe einen langen Fußmarsch hinter mir, daher verzeiht, wenn ich Eure Aufbruchspläne durchkreuzt habe und momentan nicht teile, sondern erst einmal die freundliche Einladung annehme, dir mir unterbreitet wurde.“
Unter aufmerksamer Beobachtung des bärtigen Brann, ließ Abraham sich auf einem Stuhl am Tisch nieder, ohne zuvor seine Waffen abzulegen. Er schob sie, während er mit einem sehr flüssig wirkenden Bewegungsauflauf Platz nahm, einfach in eine Position, in der sie ihn nicht behinderten. Besonders bequem war dies nicht, aber Abraham gefiel der Blick des Leibwächters nicht, der schon bedeutungsvoll mit seiner Bewaffnung hantierte. Der Inquisitor verstand diese Gestik durchaus.
„Etwas Wein, bitte, doch wirklich nicht zu viel, es ist noch früh“, wandte Abraham sich mit seinem nicht-zähnezeigendem Lächeln an Kendra, ohne Brann aus den Augen zu lassen, lehnte sich aber dann entspannt im Stuhl zurück und platzierte seine blassen, schmalgliedrigen Finger, von denen sich nur sein goldenere Siegelring mit seinem Familienwappen abhob, demonstrativ lammfromm auf dem Tisch, nachdem er auch seinen Hut dort abgelegt hatte.
„Nein, ich war mit Professor Lorrimor nicht bekannt“, beantwortete er eine noch im Raum stehende Frage, bevor er nun eindeutig Blickkontakt mit Brann suchte und, ohne zu pausieren, weitersprach, „doch glaubt nicht, dass es ohne Folgen für Euch wäre, gegen einen Vollstrecker der Inquisition von Lepidstadt die Waffen zu erheben, Mr. Morton.“
Eine im höflichen Rahmen ausgesprochene Ermahnung, bewusst gerade an dieser Stelle zum Ausdruck gebracht, um den Angesprochenen von unnötigen Dummheiten abzuhalten. Für Abraham war es offensichtlich, unwillkommen zu sein, und gerade mit dem Umstand, dass er dem Professor ein Unbekannter gewesen war, wollte er keine aggressiven Handlungen heraufbeschwören.
„Ich habe dieses Haus in friedfertiger Absicht betreten und bin nicht darauf aus, Euch Probleme zu bereiten. Seid unbesorgt“, stellte er klar.
„Tatsächlich“, begann Abraham zu erzählen, „führt mich eine Ermittlung hierher, für die der fachkundige Rat Professor Lorrimors von unschätzbarem Wert gewesen wäre, zusammen mit der Hoffnung, dass ich, trotz des tragischen Dahinscheidens desselben, für denen ich Euch allen als Erben mein Beileid aussprechen möchte, hier auf die benötigten Antworten stoße, die ich benötige. Verzeiht mir, dass ich mich an dieser Stelle lediglich kryptisch äußere, doch meine Arbeit erfordert in manchen Fällen ein gewisses Maß an Geheimhaltung und ich würde in dieser Angelegenheit ein Gespräch unter vier Augen mit Miss Lorrimor bevorzugen, anstatt in einer offenen Runde oder gar in Eile auf dem Weg irgendwohin“, dabei warf er Jadar einen kurzen, missbilligenden Seitenblick zu, „darüber zu sprechen.“
Nein, das Misstrauen ging nicht nur von einer Seite aus, und er wollte nicht, wie ein nachrichtenüberbringender Bauernjunge, hinter Leuten herrennen und im Gehen Angelegenheiten von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit besprechen. Immerhin ging es um einen untergetauchten Verbrecher, der dingfest gemacht werden musste.