Dass Abraham anscheinend vergeblich auf den Wein wartete, den Miss Lorrimor ihm zuvor angeboten hatte, verlor schlagartig an Bedeutung, als die Anwesenden, anstatt sich weiterhin lediglich abweisend zu verhalten und ihm zu unterstellen, er sei ein Betrüger (über diesen Vorwurf hätte er sich besonders aufgeregt, gäbe ihm anderes nicht einen entscheidenderen Grund dazu), nun konkreter wurden, was die Vorkommnisse in Ravengro betraf.
Der Inquisitor und damit eingefleischte Jäger aller, die Pharasmas Regeln brachen, konnte und wollte eigentlich nicht glauben, was man ihm offenbarte. Gerade dass Viktor Mortis als Pharasmit in dieser Runde stand, scheinbar relativ gelassen, seinem schlichtenden Tonfall nach zu urteilen, und sich hinter Hauswänden und der (so sah es Abraham) Ausrede versteckte, Kendra beschützen zu wollen, anstatt die Verbrecher zu bekämpfen und die wandelnden Toten zur Ruhe zu betten, versetzte ihn in Fassungslosigkeit. Und Zorn. Zorn, der seinem, trotz des Bartes, sehr jung wirkenden Gesicht deutlich anzusehen und seiner Stimme anzuhören war, als er sich langsam von seinem Stuhl erhob und wieder das Wort ergriff:
„Bisher habt Ihr also nichts unternommen, außer die aufgetauchten Untoten zu zerstören, obwohl der Friedhof entweiht wurde und die Versammlungshalle abgebrannt ist?“, reflektierte Abraham ungehalten das Gesagte und fixierte dabei Viktor mit festem Blick. „Und erst jetzt, nach mehreren Vorkommnissen, habt Ihr entschlossen, Euch aktiv der Ursache zu widmen – habe ich das gerade recht verstanden?“
Nun ja, er war nicht taub, genau dies hatte der Pharasmit vor ihm gerade durchscheinen lassen, und die scharfe Kritik, die Abraham daran nahm, wurde mit diesen eher rhetorischen gemeinten Fragen deutlich.
„Seelenruhig“, fuhr er mit finsterer Entrüstung fort, „nehmt Ihr hier Euer Frühstück ein, während Ihr dort draußen Euren Pflichten nachgehen und die Ruhe der Toten mit Eurem Leben verteidigen solltet, Glaubensbruder?“
Wo war Abraham hier nur hingeraten? Ein seltsamer Zufall schien sein Auftauchen für die bereits Anwesenden zu sein – für ihn war es jedoch ein seltsamer Zufall, dass er als Inquisitor gerade nun, da in Ravengro anscheinend gravierende Missstände herrschten, hier eintraf. Er hatte genauso Grund, diesen Leuten hier, den ihm Fremden, die hier im Haus des verstorbenen Professors versammelt waren, zu misstrauen. Dieser Nefalen hatte versucht, Abraham abzuwimmeln... Tischten sie ihm nun Lügen auf, um ihn in eine Falle zu locken? Mortis mochte zwar wie ein Pharasmit aussehen, aber was sagte Abraham, dass es nicht gerade Betrügern gegenüberstand? Denn er selbst war ganz sicher keiner! Wenn hier wirklich Nekromanten am Werk waren, schien Viktor ihm maßlos überfordert mit der Situation zu sein.
„Da Ihr dieses Gewand tragt“, erinnerte Abraham den Pharasmiten tadelnd, „seid in erster Linie Pharasma verpflichtet, und nicht irgendeinem letzten Willen oder Eurer eigenen Befindlichkeit!“
Er wollte nicht respektlos gegenüber dem verstorbenen Professor sein, doch diesem jungen Mann gehörte ordentlich eins auf die Finger geklopft. Abraham selbst mochte als Inquisitor zwar zu drastischeren Mitteln greifen als ein Pharasmit, der im Tempel diente und in seiner Gemeinde tätig war, doch vereinte alle Pharasmiten die Aufgabe, diejenigen, die die Toten schändeten, unschädlich zu machen und den wandelnden Toten wieder Ruhe zu schenken.
„Seid Ihr hier etwa der einzige Priester im Ort?“, interessierte es Abraham zu wissen und musterte den jungen (angeblichen) Pharasmaanhänger prüfend, bevor er einen Blick in die Runde warf. Fehlte da nicht einer? Wo war der Kerl hin, der Kendra zur Tür begleitet hatte? Doch dies überging Abraham, auch wenn er sich deswegen zur Aufmerksam ermahnte.
„Rasch, berichtet mir, was genau bisher geschehen ist, aber fasst Euch kurz!“, verlangte der Dhampir, dem die bisherigen Aussagen zu vage waren, um sofort zu handeln – etwas, wozu er bereit war und sein Tonfall unterstrich die Dringlichkeit seiner Worte.
„Die Gefahr scheint keinesfalls unter Kontrolle zu sein“, widersprach er Kendra und blickte diese dabei kurz an, „demnach, was Ihr bisher zu sagen hattet. Mein Anliegen kann unter diesen Umständen warten. Warum verschwenden wir unsere Zeit noch mit Geplauder und Misstrauensbekundungen?“
Er machte eine unwirsch abwinkende Geste der Ungeduld und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Nun hatte er keinen Nerv übrig, über seine Ermittlungen zu reden (und das Wichtigste war: die Zeit drängte, denn er konnte es nicht zulassen, dass weiterhin Pharasmas Regeln mit Füßen getreten wurden) – aber selbst wenn er in seiner Aufregung bemerkt hätte, dass Kendra die Absicht besaß, ihn mit der Frage nach den Kollegen des Professors testen, hätte er genauso geantwortet, wie er es getan hatte.