Sonntag, 19. März 1871 - Am Morgen danach - 19:25 Uhr - Bei Pére Groués in der Rue de Doutes (Montmartre)
Während Groués und Zeidler in der Straße der Zweifel dieser Benennung zur Ehre gereichten, wurden auch die sich in alle Winde verstreuenden Beobachter und Agitatoren von diesen eingeholt. Warum hatten sie in einem - improvisierten und evangelischen - Glaubenshaus darüber gestritten? War dies der richtige Ort gewesen? Das Geflüster im Saal, von den aufbrechenden Gästen, verriet immerhin etwas über dieses Treffen. Zwischen jenen Frauen und Männern, die voller Lobes für diese außerordentliche, viele tief im Inneren treffende Rede Paul Zeidlers oder gar für seine ganze Person waren, gab es auch jene, die sich fragten, wer dieser Mann mit dem Kalabreser war. Keiner hatte ihn, Carls Ohren mochten in diesem Moment besonders gespitzt sein, jemals gesehen. Keiner konnte sich vorstellen, dass er ein Teil des Zentralkomitees sein konnte, andererseits kamen auch Zweifel daran auf, dass man ihn gesehen haben musste. Lebten in Paris nicht mehr als zwei Millionen hungernde Seelen? Wohl kaum mochte jeder Nationalgardist aus dem Gebiet Montmatres kommen. Und auch die so wortreiche Frau war Thema. Louise Michel
[1] soll sie heißen. Die Gäste, welche sich nicht dem Christentum anhängig waren oder zumindest mehr den alternativen Regierungs- und Staatsgestaltungen angehörig fühlten, sprachen in ähnlichen hohen Tönen von ihr, wie die Christenmenschen von Paul Zeidler sprachen. Aber wieso hatten sich so viele Nichtchristen hier eingefunden? Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass jenes, was sich an diesem Abend hier bei Pére Groués ereignet hatte, nicht in diesem feuchten Gemäuer bleiben. Man würde darüber sprechen, man würde es weitertragen, denn in einer Sache waren sich die Gäste einig. Auch wenn der Streit für manchen nicht aufgelöst scheint, war dieser Abend ein besonderer Abend, ein erinnerungswürdiger Abend. Es war ein Abend, der nicht, unabhängig der Nahrungsversorgung durch die Männer um Paul Zeidler, ohne Bedeutung bleiben würde...
Donnerstag, 23. März 1871 - Früher Morgen - 08:09 Uhr - Place Blanche (Montmartre)
Sonderbares Gestammel, Gestöhne, Gebrabbel, dann vereinzelte Jubelrufe, gefolgt von Gewehrschüssen in die verregneten, ersten kalendarischen Frühlingstage. All jenes wurde abgelöst von spontanen Beifallsbekundungen, ja sogar von spontanen Tänzen und hier und da sangen die Menschen, mal weinend vor Freude, mal lachend vor eingebildetem Glück, die Marseillaise. Nicht in der Art, wie der junge Mann sie in der schicksalshaften Nacht vor einigen Tagen gesungen hatte. Nicht umgestellt, nicht die Brutalität dieses Liedgutes in den Vordergrund stellend, sondern die Bedeutung für das revolutionäre Frankreich einatmend, als wäre es ein erquickendes, regenerierendes Wasserdampfbad, in dem man Weihrauch und andere ätherische Öle inhalierte, um wieder frei atmen zu können. Kaum einer der Männer war sich der Herkunft und Geschichte der Marseillaise bewusst; wusste, dass ein gewisser Claude Joseph Rouget de Lisle
[2] dieses Lied mit royalistischem Feuereifer für die Rheinarmee
[3] schrieb und als dann ausgerechnet sein royalistisches Lied zum Revolutionslied wurde, selbst für seine royalistische Gesinnung im Gefängnis schmorrte und vielleicht darüber nachsinnte, wie es passieren konnte, dass sein Lied für etwas Sinnbild wurde, was er nie beabsichtigen hatte können.
Ein paar Männer kannten die Geschichte, die sich hinter Rouget de Lisle verbarg und sein Schicksal und jene Männer schauten zwischen den Jubelnden umher, auf dem Place Blanche, der nach wenigen Tagen des Regens wieder ein weißer Platz war, der seine Gefallenen schon längst wieder vergessen hatte. Es gab keine offiziellen Zahlen, obwohl die republikanische Seite um Thiers zu wissen glaubte, dass lediglich die beiden erschossenen, aus Regierungssicht exekutierte, Generale gefallen waren. Männer, die den Place Blanche geräumt hatten, sprachen von vielleicht dreißig oder vierzig Verletzten und mindestens zehn Toten. Allerdings gaben sie nur in den privatesten Gesprächen, wie im heilsamen Zwiegespräch mit Paul Zeidler, oder im freundschaftlichen Gespräch mit Sébastien Moreau, oder im dienstlichen Austausch mit Carl von Lütjenburg, preis, dass die wenigsten durch die Sicherung der Kanonen gestorben waren. Die meisten waren bei Übergriffen liderlicherer Natur gestorben, bei Vergewaltigung, Mord und Totschlag, bei zwei oder drei Plünderungen, weil Schurken ihre Stunde gekommen sahen, ihren seit der Belagerung währenden Hunger und ihre Verluste, oder ihre Triebe, auf Kosten anderer im Zuge des sich andeutenden Chaos zu kompensieren, zu befriedigen. Es hatte nicht so viele Zusammenstöße mit republikanischen Soldaten gegeben. Ihre Moral war schwach, wie man im Militärjargon zu sagen pflegte, und die meisten mieden die wenigen Nationalgardisten, welche die Kanonen sicherten, oder sie fraternisierten oder sie flohen auf den Befehl Thiers. Und die Nationalgardisten, so war man sich sicher, wenn man vertraulich miteinander sprach, waren im Chaos nicht in der Lage, von Emotionen emporgetragen, die ganze Szenerie im Auge zubehalten, oder drastischer gesagt: Viele dieser Täter versteckten sich weiter in den Reihen jener, die Revolution riefen und die jetzt, in diesem Moment, jubelnd auf dem Place Blanche und an anderen Orten dieser Zwei-Millionen-Stadt standen und tanzten und sangen.
Die paar Männer, die sich das ganze Treiben anschauten, waren nicht um ihrer selbst willen an diesem Ort. Sie beobachteten die Szene für die Republik. Es waren gebildete Männer, es waren unauffällige Männer, deren Aufgabe ihnen nicht anzusehen waren, solange man nichts von ihnen wusste. Solange man sie nicht erwartete und ihre Erkennungszeichen, ihre Zeichen und ihre Art kannte und zu lesen verstand. Sie waren ein Teil der jubelnden Menge, die sich hier auf dem Place Blanche zusammengefunden hatte aus einem bestimmten Grund. Hätten sie Carl von Lütjenburg gekannt, der aus demselben Grund zurück zum Place Blanche gefunden hatte, hätten sie auch gewusst, dass der preußische Offizier mit Rouget de Lisle gewisse Gemeinsamkeiten hatte. Beide waren Royalisten im weitesten Sinne, beide waren Freunde der Militärmusik
[4] und des gewaltigen Pathos und sie beide waren eigentlich, ursprünglich und im Herzen in der Gattung der Pioniere beheimatet. Ihr Schicksal unterschied sie. Die Männer, diese unerkannten republikanischen Männer, hätten sich gefragt, ob sich ihr Schicksal noch unterschied. Rouget de Lisle hatte es bis zum Hauptmann gebracht, als die Revolution seine Karriere beendete und er nur knapp der Guillotine entging. Er starb als armer Mann, trotz seiner Erfolge und seines Hauptwerkes, welches so von Rouget de Lisles Gedanken entfernt wurde. Würden diese Republikaner, wenn sie denn Carl kannten, auch denken, dass diese beginnende Revolution, auch wenn sie bisher nur eine Pariser Revolution war, dem nächstem Militär die Karriere beenden würde? Sie würden es nicht ausschließen. Sowohl Carl als auch die unerkannten Republikaner waren aus demselben Grund gekommen, und sie blickten diesen Grund an. An Hauswände waren Aushänge angebracht wurden. Auch Sébastien und Paul konnten diese Aushänge vor sich sehen. Es war eine Ankündigung, welche die Gesänge, die Tänze, die Jubelschreie und Gewehrschüsse ausgelöst hatte. Das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese ungreifbare, gesichtslose Menge von Menschen und neuen Würdenträgern hatte eine Entscheidung, an allen vorbei und doch nicht unerwartet, getroffen. Hatte es die letzten Tage Befürchtungen gegeben, dass das Zentralkomitee der Nationalgarden, diese uneinheitliche Vereinigung von Bürgermilizen, einen oder mehrere Despoten hervorbringen würde, welche die Macht in ihren Händen, gestützt auf dem flammenden Willen von Revolutionären und den erbeuteten Kanonen, nicht mehr abgäbe, machte dieses Komitee nun bekannt, dass sie kurzfristig Wahlen anberaumen. Die Wahlen würde bereits am folgenden Sonntag stattfinden und es würden demokratische Wahlen sein. Die Menschen jubelten. Die Republikaner wie die Anwesenden starrten auf den Ort, an dem sich am 26. März das Schicksal dieser Stadt verändern könnte, würde. Hôtel de Ville
[5]. Bis zum 24. März bis zum Spätabend mussten sich alle Interessenten, die gewählt werden wollten, melden, im Hôtel de Ville. Die Plakate, die überall auf den Straßen auftauchten, versprachen explizit, dass fast jeder sich zur Wahl stellen konnte. Thiers und seine Mannen freilich nicht. Paris war sich selbst Herr, das war die Botschaft dieser Plakate. Paris war sich selbst Herr - ja, so viel Pathos musste in dieser Stadt der Künstler und Bonvivants
[6] sein - bedeutete nicht nur, dass die Stadt die auferlegten Fesseln, die sie entweder erduldete oder zu erdulden glaubte, des großen und nach der großen Niederlage ebenso geschwächten Staates abgelegt, gar gesprengt, hatte, sondern dass die Arbeiter sich befreit hatten und nun mit in die Bestimmung kamen, ihren historisch-determinierten, wie zumindest manche Denker und Arbeiter glaubten, Platz in der Geschichte einzunehmen. Die Euphorie war greifbar über den ganzen Place Blanche und sie freuten sich miteinander, die Proudhonisten
[7], die Marxisten
[8], andere Ideologen, die ideologisch unberührten, aber nicht minder besorgten Arbeiter, aber auch die reformistischen Republikaner, die sich noch immer darüber ärgerten, dass zwischen dem 8. und 17. Februar Wahlen stattfinden, deren Sieger Adolphe Thiers war, der zum Chef der Exekutive wurde. Alle Parteien, obwohl Thiers sich selbst als Republikaner sah, empfanden dies als Angriff auf ihre Ideen und das Erbe der Revolution, dass ausgerechnet dieser Thiers, der versuchte das Bildungswesen wieder katholisch zu machen, der den Bürgerkönig erst gestützt, dann sich gegen ihn gestellt und dann wieder die politische Linke bekämpft hatte, bei einer Wahl bestimmt wurde, von der halb Frankreich im Unklaren gelassen wurde. Ein Grund, warum die Menschen sich über die offene Verkündigung der Wahlen freuten. Sie fühlten sich, als würde ihnen eine Art Gerechtigkeit wiederfahren, die sie selbst erkämpft haben. Die sie sich in dem Moment gemeinsamer Souveränität
[9] verdient hatten.
Die unerkannten Republikaner, die wahrscheinlich im Auftrag Thiers unterwegs waren, ob wissentlich oder nicht, zogen sich langsam wieder zurück. Zumindest ein Teil von ihnen. Es mochten vielleicht zweihundert oder dreihundert Menschen auf dem Place Blanche zu dieser frühen Stunde sein. Die trotz ihres Tagesgeschäftes jene Muße oder jene Notwendigkeit sahen, sich über diese Ankündigung zu freuen. Wahlen also. In diesem Tross aus Freude und Aufmunterung fuhr freilich auch die Sorge mit, als sei sie ein unverzichtbares Element jeder Bewegung, jeder Hoffnung. Sébastien bekam es dank François Durand schnell zu hören, doch auch Paul Zeidler bekam diese Worte mit, stand er doch nicht unweit der Szene nahe einer Gaststätte entfernt, sich an den letzten Sonntag und ihren Austausch erinnernd. Und so war es zwar in dieser Menge von Menschen ein Zufall, doch nach dem Carl die beiden aus der Entfernung sah, nachvollziehbar, dass auch der preußische Offizier sich in der Nähe postierte, immer noch auf der Suche nach Information. Und sie wurden ihm auf dem Silbertablett präsentiert. François begrüßte Sébastien mit einer festen Umarmung, strahlte aber nicht ob der guten Nachrichten. Einige Arbeiter hatte sich um Sèbastien formiert, sie scherzten und johlten. Argwöhnten, in ihren schmutzigen, kohleschmutzigen oder gipsweisen Kleidern, auf den Wegen zu ihren Fabriken und den Abbaustätten, wie es wohl sei, wenn sie Thiers ganz in die Knie gezwungen haben werden. Sie waren sich einig, dass Paris ein Leuchtfeuer der befreiten Arbeiterschaft sein würde und zankten freundschaftlich miteinander, wer sich wohl von ihnen zur Wahl stellen würde. Wer wohl so viel Mut hätte. Doch François wirkte aufgebracht und beunruhigt. Sèbastien wusste warum. Die anderen hörten François aufmerksam zu.
"Mein lieber Sèbastien. Ein Schritt ist getan, aber ich muss von dir Unmenschliches in diesem Moment der Freude verlangen. Sie halten uns doch den Louis[10] gefangen. Eine demokratische Wahl ist gut, aber was, wenn zu viele Menschen aus Hunger nicht ganz bei Sinnen sind und zu viele Republikaner wählen? Oder zu viele Professoren und Lehrer? Und was ist, wenn wir uneins bleiben? Sébastien, mein lieber Sébastien, ist es nicht so, dass jede Menge nicht doch zumindest eine Ordnung braucht? Dass wir einen Mann brauchen, der keine Herrschaft beansprucht, aber das Unordentliche in Ordnung bringt und uns hilft, uns selbst nicht aus den Augen zu verlieren? Du weißt, mein Lieber, dass Louis diese Ordnung bei uns bringt. Wir müssen die Freude zurückstellen und etwas wagen, um Louis freizumachen! Ich habe auch einen Plan! Lass uns Louis befreien. Ja, ja, ich weiß, da sind Soldaten und viele Soldaten. Aber wenn sie uns eine wichtige Person nehmen, lass ihnen eine nehmen. Lass ihn den Pfaffen nehmen! Ihren Leuchtturm des Mutes[11]! Was sagst, mein Lieber? Wir dürfen uns freuen, ja, aber wir dürfen uns jetzt nicht in Freude verlieren. Wir müssen uns helfen. Für Louis, für uns Arbeiter! Wir dürfen uns nicht zerstreuen lassen!"Manche Leute um den Mann, der noch immer die Spuren der zurückliegenden Scharmützel deutlich im Gesicht trug, wie die blaue Nase um die Bruchstellen seines Nasenrückens., wandten sich erschüttert ab, während andere ihre Zustimmung laut bekundeten, Männer und noch mehr Frauen zeigten ihre Zustimmung. Zu seiner Überraschung sah Sébastien in diesem Moment auch die willensstarke, grimmige Frau, die ihm schon bei seinem Besuch bei Paul Zeidler aufgefallen war. Sie schien besonders davon begeistert, einen Katholiken an der Stola
[12] zu packen.
Erwartungsvoll blickte der beste Freund Sébastien an, trotz der Verletzungen mehr als kampfeswillig. Manche Männer und Frauen gingen fort, andere befeuerten ihre Zustimmung immer weiter. Und irgendwo dazwischen mochte die noch unerkannten Republikaner stehen, sich abwenden oder jubeln, nur um der Farce willen.