Die Nacht des Blutes Prolog - Tag Null der TotenDie Wolken am Himmel waren tiefdunkel, und selbst Elendras Mond- und Sternenlicht waren nicht zu erblicken. Das einzige, was den Nachthimmel gelegentlich erhellte, waren ferne Blitze. Leichter Regen prasselte auf die Dächer Aradans, gerade genug, damit es für die armen Seelen, die auf den Straßen der Stadt übernachten mussten, kalt und ungemütlich wurde. Der späte Herbst war in diesem Jahr nicht besonders gnädig.
Das Wetter drückte auch die Feierlaune, und so tönte in der ersten Stunde nach Mitternacht nur noch aus wenigen Gasthäusern das Lachen der Gäste und die Musik der Spielleute. Hier, im Wirtsviertel, war von den Stadtmauern wenig zu sehen, auf denen immer mehr Laternen aufflammten. Die Musik übertönte noch den fernen Lärm, und die Nacht verhüllte alles, was eine Warnung hätte sein können. Im Wirtsviertel von Aradan herrschte noch für wenige Minuten Frieden, ein ungemütlicher Frieden, aber immerhin.
Eine einzelne Kerze brannte, nur knapp vor dem Regen geschützt, während Omrah unter einer Treppe, die zu einem der Verbundhäuser hoch führte, schlief. Seine Kleider waren durchnässt, und ihm war kalt, doch die Alpträume, die ihn seit Tagen plagten, ließen ihn auch in dieser Nacht nicht los. Er sah die Gesichter seiner Eltern, sah im Schlaf den kalten Hunger in ihren Augen, während die Kerze neben ihm Minute für Minute kleiner wurde und das geschmolzene Wachs sich auf dem Boden und an seiner Hand sammelte, um dort zu erkalten.
Esulilde hingegen war an einem Ort, der für sie komfortabler kaum hätte sein können: Die kuppelartige Schwarze Halle des Aguas, dem hochheiligsten Raum ihres Gottes im Tempel von Aradan. In der Halle, die Platz für einige Hundert Gläubige bot, war sie im Augenblick ganz allein, denn die Priester führten draußen ein Ritual durch. Der Boden aus schwarzem Marmor war kalt, es gab keine Stühle oder andere Bequemlichkeiten, nur den Altar aus schimmerndem Obsidian, eine große schwarze Kerze auf ihm. Das sanfte Licht erhellte das Leinentuch, groß wie eine Bettdecke, das über dem Altar hing und das von Leid und Leidenschaft erfüllte Gesicht ihres Gottes zeigte.
Ähnlich wie Omrah verweilte Rhamedes noch im Land der Träume, und auch seine Träume waren unruhig – wenn auch eher verworren, als von Schrecken erfüllt. Er beobachtete Szenen, von denen er wusste, dass sie nicht seinen eigenen Erinnerungen entsprangen: Wirre Traumsequenzen oder Szenen aus dem Leben eines Fremden? Er wusste es nicht, er mühte sich nur, dem Netz der Träume zu entkommen, oder zumindest eine beruhigende Klarheit in ihnen zu finden, doch es mochte ihm nicht gelingen.
Als einer der wenigen fand Gelirion ruhigen Schlaf. Die Nähe der Tiere, die er selbst jetzt noch spürte, gab ihm Ruhe, ebenso wie ihr langsames, rhythmisches Atmen. Er träumte von seiner Heimat, dem Land, das er liebte und das er verlassen hatte für seine Schwester, die er noch weit mehr liebte, um sie zu ihrem zukünftigen Ehegatten zu bringen.
Was Areo erlebte, war hingegen kein normaler Schlaf. Sein Mentor hatte so etwas als Innere Reise bezeichnet, ein mystisches Erlebnis, welches den Traum als Vehikel benutzte, um dem Träumenden eine Botschaft zu übermitteln. Er stand vor den Toren Aradans, und sein Mentor – um einige Köpfe größer, als er ihn in Erinnerung hatte – sprach mit sanfter Stimme zu ihm. Doch was Tyr ihm erzählte, gefiel Areo nicht, denn es mochte bedeuten, dass es viel länger dauern würde, bis er in seine Heimat zurückkehren könnte, als er es angenommen hatte.
Und so erlebte jeder diese Nacht auf seine ganz eigene Weise, noch nicht ahnend, das bald, sehr bald, alles anders werden würde.