Während der aufgeregten Rede des zuvor so stillen Jungen hatte Will sich endlich vom Anblick der Untotenhorde losreißen können und saß nun mit angezogenen Beinen auf dem Boden, den Rücken an die Balustrade gelehnt. Als Omrah seinen Teil gesagt hatte, wurden Zweifel geäußert, obwohl auch eine Gegenstimme kam, die dem Jungen allerdings fast noch mehr zu verstören schien als die Äußerungen der Zweifler. Will dagegen sah die Sache noch einmal ganz anders.
Es ist doch völlig egal, ob der Junge tatsächlich von Göttern oder Lichtwesen auserwählt wurde, wenn ihm diese Vorstellung hilft! Herrje, in den nächsten Stunden könnt er schon sterben—oder Tagen, wenn wir Glück haben! Da soll er sich Trost suchen, wo er Trost findet! Das letzte, was er braucht, ist jemand, der ihn 'in die Realität' zurückholen will. Nein, wir sollten ihm den Trost gönnen und dazu noch das Gefühl, dass wir ihm glauben, dass er von uns ernst genommen wird. Am Ende ist's ja vielleicht sogar wahr. Denn ist das Leben nicht oft seltsamer als jede von Menschenhirn ersonnene Fabel?
Vom Boden aus bedachte er eine der Zweifler—diese Frau namens Iana—mit einem kühlen Blick und sagte ebenso kühl:
"Vor der Wahl der Götter muss die Bereitschaft des Menschen stehen. Ist jemand nicht bereit, etwas zu tun, was sollte es dann nützen, dass die Götter ihn dazu erwählen? Was verspottest du ihn wegen seines Alters? Frag dich doch lieber selbst, was du zum Schutz aller beitragen kannst! Das hat Omrah sich nämlich schon die ganze Zeit gefragt und er hat seine Antwort gefunden. Für das Licht will er kämpfen und die gefangenen Seelen retten! Da frage ich mich erst einmal gar nicht nach der Erfolgschance, denn die steht für uns alle so schlecht, wie man sich nur denken kann, da ziehe ich doch erst einmal meinen Hut vor seinem Mut und seiner Entschlossenheit!"
Hierzu sprang Will auf und verbeugte sich tief, wobei er einen Hut—den man sich dazudenken musste—vom Kopf nahm und mit wirbelnder Geste vor Omrah schwenkte. Dann setzte er sich wieder.
"Bei mir war's übrigens so ähnlich", sagte er, diesmal zu Omrah selbst. "Und ich habe gar nicht mal so ein großes Ziel vor Augen gehabt wie du. Ich habe die Götter bloß angefleht, mich nicht so jämmerlich im Dreck krepieren zu lassen. Einer meiner Mithäftlinge hatte mir gerade das Gedärm mit einem selbstgehauenen Steinmesser aufgeschlitzt und mich in der hintersten Grube liegengelassen. Da habe ich die Götter um Hilfe angefleht, obwohl ich kein sonderlich frommer Mensch bin und auch kein guter, und mir von daher kaum eine Chance ausrechnete, erhört zu werden. Doch dann war da plötzlich jemand. Die Grube war verlassen, die Nacht schon angebrochen, ich habe auch keine Schritte oder Atem gehört. Aber es war jemand dort. Hatte mich jemand erhört? Wenn es ein Gott war, dann kam dafür, bei meinem Lebenswandel, aber nur Zida oder Neodor in Frage, und so wiederholte ich meine Bitte direkt: 'Wenn du Zida bist oder Neodor, dann hilf mir, und du sollst meine Seele haben. Oder seid's ihr gar beide? Dann dürft ihr knobeln!' Du siehst, wenig fromm, aber es ist auch sehr schwer, in so einer Situation fromm zu sein. Und weiß du was: wer immer es war, er hat mir geholfen. Er hat mir die Gabe zu heilen gegeben. Und bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wer es war. Bis auf den heutigen Tag muss ich beide anrufen, wenn ich mich oder einen anderen heilen will.
Was ich damit sagen möchte: es kommt vor. Einfach so, ohne Fanfaren, Blitzschlag oder Weihrauch. Und die Götter allein entscheiden, wen sie ihrer Gabe für würdig befinden. Das kann auch ein verurteilter Verbrecher oder ein kleiner Junge sein. Lass dir also von niemandem einreden, dass du einer solchen Gabe nicht würdig seist, Omrah, oder der Aufgabe nicht gewachsen, oder so ein Unfug. Wahrhaft scheitern kann nur der, der es nicht einmal versucht."