Als Pater Johannes Alarics Heilige Schrift das nächste Mal öffnete, sah er unter seinen drei Fragen folgende Antwort:
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Ich sehe einen Mann, der gerne mit den anderen lachen würde, aber er hat das Lachen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne fühlen würde, aber er hat das Fühlen verlernt.
Ich sehe einen Mann, der gerne etwas sagen würde, aber er weiß nur zu schweigen.
Vor allem aber sehe ich einen Mann, der einen schrecklichen Fehler begangen hat.
Vier Menschen hat er ermordet, vier Unschuldige gerichtet, als wären sie schuldig, als wäre er ihr Richter und Henker zugleich. Im Namen Kelemvors noch dazu, dem diese Taten doppelt ein Greuel sein müssen.
Ich sehe einen Mann, der sich gerne dahinter verstecken würde, dass er in jugendlichem Alter dazu verführt wurde, dass er mit seinen elf, zwölf Jahren sich nicht gegen die Lehren des Meisters hat wehren können, dass es nur ein böser Zufall gewesen ist, dass der Meister ihn aus den zehn oder mehr Kandidaten ausgewählt hat, aber damit würde ich mich selbst belügen. Meister Hairon hat schon mir schon als Zehnjährigem angesehen, dass ich des Mordens fähig bin.
Wie Ihr mich seht? Ich weiß es nicht. Wie jemand, dem vergeben werden kann? Dann hoffe ich, dass Ihr recht habt. Wenn ich es selbst nicht auch ein wenig glauben würde, wäre ich nicht hier. Aber habt Ihr auch wirklich genau hingeschaut?"
Als der Pater umblätterte, fand er die folgenden vier Zeichnungen lose in das Büchlein hineingelegt.
[1]Die vier Opfer am Tatort (Anzeigen)Ein Mann im Bad. Der Kopf fällt ihm leblos in den Nacken, über den Rand der Wanne. Seine Kehle ist von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt, Blut fließt am Hals hinab, über die Brust bis ins Wasser, die Augen sind weit aufgerissen, der Mund auch. Der Mann hat eine Glatze mit einem dichten Haarkranz, vermutlich blond-grau, und einen vortrefflichen Bierbauch. Im Vordergrund des Bildes sieht man eine Hand, die ein Messer hält—beides blutverschmiert. Der Porträtist scheint beim Anblick der Szene durchaus heftige Gefühle zu empfinden, die miteinander im Konflikt stehen. So hält zwar die eine Hand das Messer, aber die andere hält den Kopf des Opfers, als hätte sie diesen gerade sanft auf dem Rand der Wanne abgelegt, und außerdem drückt das Bild Angst aus, die—da ein Toter keine Angst mehr haben kann—die Angst des Täters sein muss. Wenn man so die Entfernung und den Winkel der Hände zur Blickrichtung des Bildes bedenkt, muss man zu dem Schluss gelangen, dass der Betrachter—vielleicht gar der Zeichner—auch der Täter ist bzw. sein soll. Dieses Bild könnte als Geständnis gedeutet werden.
Ein junger Mann liegt in einer dunklen Gasse auf dem Rücken, die Augen starr und leer. Er trägt modische Kleidung, etwas zerfetzt, denn er scheint zu Tode geprügelt worden zu sein. Es ist kaum Blut zu sehen: eine aufgeplatzte Lippe, eine gebrochene Nase, eine ausgerenkte Schulter. Dennoch eindeutig tot. Vielleicht ist ihm eine Rippe bis ins Herz gedrungen oder hat die Lunge zerfetzt? Seine Kleidung und die Häuser in der Nähe sagen eindeutig, dass der Tatort sich diesmal in Luskan befindet. An der Kleidung des Toten findet sich außerdem ein Familienwappen, in aller Deutlichkeit festgehalten (tatsächlich scheint der Zeichner hier in der Größe etwas übertrieben zu haben, damit die Details besser erkennbar sind). Es scheint sich also um den jungen Spross einer wichtigen Familie zu handeln. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn niemand in Luskan erfährt, dass sein Mörder aus Niewinter kam.
Eine nackte, schlanke Person, die in einem zerwühlten Bett liegt, neben ihr ein Mann. Der Mann scheint nicht tot, nur zu schlafen, die Frau aber ist eindeutig tot. An dieser Stelle stutzt der Betrachter: das Opfer, ist es Frau oder Mann? Nein, es muss wohl eine Frau sein, obwohl der Porträtist aus Scham oder Pietät (Scham? Pietät? Welch seltsamer Künstler ist das, der beim Anblick des menschlichen Körpers Scham empfindet oder aus Pietät Nacktheit verhüllt?) die Geschlechtsmerkmale nur in gröbsten Strichen skizziert hat; kaum, dass man ihre Gesichtszüge als weiblich erkennt. Auch das lange, in echt vielleicht seidig-weiche Haar wirkt hastig gezeichnet und dadurch struppig wie ein Pferdeschweif. Ein verschämter Künstler also, der sich kaum traut, den Körper der nackten Frau zu betrachten. Ob ihr Mörder ebenso verschämt zur Seite geblickt hat, als er sie mit dem Kissen, das jetzt auf dem Boden liegt, erstickt hat? Dagegen ist der schlafende Mann neben ihr so deutlich gezeichnet, dass der Betrachter sich zutrauen würde, ihn auf der Straße wiederzuerkennen. Ansonsten zeigt das Bild aber weniger Details des Zimmers als die anderen drei.
Ein toter Mann in einem Haus hier in Niewinter.
[2] Von der Stimmung her scheinen der Porträtist oder der Täter oder beide jedenfalls: verwirrt, verstört, hektisch. Und obwohl hier keine Hand oder sonst etwas vom Täter zu sehen ist, macht dieses Bild noch mehr als das vom toten Badenden den Eindruck eines Geständnisses.
Auf der nächsten Seite stand:
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Und wenn Ihr jetzt genau hingeschaut habt, dann könnt Ihr mir vielleicht eine Frage beantworten: Warum sollte Kelemvor mir das vergeben? Warum solltet Ihr oder Lord Nasher oder auch Ilmater mir das vergeben? Warum sollte ich mir das vergeben?"
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Am nächsten Morgen während der Frühmette dachte Alaric über Freundschaft nach. Wie konnte man sie definieren? Dabei meinte er die Freundschaft zwischen Erwachsenen, nicht die Geschwisterliebe oder das sorglose Spiel der Kinder; beides hatte er erfahren, das kannte er. War Benno ein Freund? War Alaric ihm ein Freund? Was machte zwei erwachsene Menschen zu Freunden?
Eine grundlegende Voraussetzung schien ihm, dass man die Gesellschaft des anderen schätzte und sich nicht die ganze Zeit wünschte, bei seinem Tun lieber allein zu sein. Und daran haperte es ja schon, denn er würde Benno bisweilen wirklich zu gern sagen: Jetzt lass mich endlich in Ruh! Zwar tat er dies am Ende nie, aber war gedacht nicht fast dasselbe wie gesagt? Nun gut. Was also weiter? Dass man sich in einer Gefahrensituation aufeinander verlassen konnte—nein, halt, das war die Definition von Kampfkamerad.
Neuer Versuch: dass man miteinander lachen und reden konnte, aber auch von seinen Sorgen erzählen (er hatte Benno noch von nie von seiner Sorge erzählt, genausowenig wie dieser ihm offenbart hatte, was ihn denn nun wirklich plagte); dass man Ratschläge erwarten und geben durfte, die der andere dann auch, wenn nicht jedesmal beherzigte, so doch ernsthaft bedachte (er hatte von Benno noch nie einen Rat erbeten oder erhalten und dieser aß Tag für Tag die Reste von Alarics Teller und auch immer noch zu viel Naschwerk zwischendurch); dass man dem anderen nicht über das Maul fuhr und ihm sagte: "Jetzt schweig endlich still, du Dummkopf!", auch wenn derjenige etwas dummes gesagt hatte...
Nun gut, wenigstens
das hatte Alaric bisher weder gesagt noch gedacht, aber nur, weil er stattdessen einfach weghörte, und das war dasselbe wie Abwenden, vielleicht noch schlimmer, denn es war eine Art von Täuschung. Überhaupt, die eigenen Sorgen für 'wichtiger' erachten als die des anderen war... selbstsüchtig.
Das sah nicht gut aus, da blieb nichts übrig, das ihn mit Benno verband, außer den (nicht gänzlich unerwünschten) Gesprächen über dies und jenes—die von Alarics Seite her zumeist aus geduldigem Zuhören bestanden, mit dem ein oder anderen Einwurf—und der gelegentlichen Erheiterung, ob still lächelnd oder als Lachen geäußert. Und trotzdem, wenn er sich vorstellte, der Junge würde morgen vielleicht den Tempel verlassen, woanders hinziehen oder gar krank werden...
Vielleicht war Alarics Definition von Freundschaft ja zu hoch gegriffen; vielleicht war dies alles das hehre Ziel, Freundschaft aber einfach nur der gemeinsame Weg darauf zu.
Ein tröstlicher Gedanke, der eine Welt von Möglichkeiten zu öffnen schien—bis Alaric auffiel, dass er einen wichtigen Punkt bei seiner Definition vergessen hatte:
Freundschaft ist, wenn man einander vergibt.Und das Tor zu seinen Mitmenschen, das sich für einen Augenblick geöffnet hatte, schlug wieder zu.