Die Priesterin hörte Jurij weiterhin aufmerksam zu. Ob ihr mitleidiger Blick sich auf seine Geschichte, oder auf den Verzehr der widerwärtigen Ingredienzen bezog, war schwer zu sagen. Schließlich aber hatte Jurij es hinter sich - auch wenn die Mischung der beiden Geschmäcker noch in seinem Mund verblieb, was erneut einen Würgereiz in ihm hervorrief.
Dann, ganz plötzlich, fühlte sich Jurij entspannt. Zum ersten Mal seit langer Zeit kehrte Ruhe in seinen Geist ein. Sein Blick wurde wie von einem Nebel überlagert, weiß und verschwommen. Irgendwo in seinem Geist begriff er, dass dies nichts weiter als Tränen waren, während sein Blick sich nach oben auf die weiße Decke gerichtet hatte. An dem Gefühl des Nebels aber änderte es nichts.
Er war einfach nur hier, jetzt, in diesem Augenblick. Keine Probleme, keine Sorgen. Seine Gedanken gingen zurück, in die Vergangenheit. Japan. Das Kloster. Berlin. Sein Studium, das so unendlich weit weg schien. Wie sorglos sein Leben zu dieser Zeit doch war. In diesem Augenblick war das Gefühl zum Greifen nahe. Wie ein Schiff auf sanfter See glitt er weiter zurück in seinen Gedanken, die Zeit im Internat, schließlich seine Kindheit. Seine Eltern.
Seine Großmutter. Sie war für ihn da gewesen, ja. Aber wo waren seine Eltern gewesen? Arbeit, Karriere... aber sie hatten sich doch für ihn entschieden! Sie hatten ihn gewollt! Und dann hatten sie keine Zeit für ihn gehabt. Er hatte seine Auswege gefunden. Hatte Ersatz gefunden. Hatte sich gefügt und mit Verständnis reagiert, als er alt genug dazu war. Aber nein, jetzt, in diesem Moment, wollte er kein Verständnis haben!
Sie hatten ihn gewollt, nicht umgekehrt! Sie waren seine Eltern! Sie trugen die Verantwortung für ihn! Sie hätten da sein müssen.
Die Einsamkeit seiner Kindheit, lange vergessen, stieg in ihm auf. Seine Eltern hatten ihm das, was für ihn lebensnotwendig gewesen war, nicht gegeben.
Er hatte trotzdem überlebt, durch Ersatz, durch Flucht. Aber nicht durch das, was ihm eigentlich zugestanden hätte. Nicht durch das, was ihre gottverdammte Pflicht gewesen wäre!!
Wut stieg in ihm auf, Verzweiflung, und Trotz. Er würde sich holen, was ihm zustand. Was er zum Leben brauchte, zum Wachsen, zum Reifen. Die Welt, nein, das ganze götterverdammte Multiversum war es ihm schuldig!
Jurij spürte ein Licht in seinem Inneren, es füllte ihn aus, begann dort, wo das Basalchakra sein sollte, und ging hoch bis zu seinem Herzen. Es strahlte, für ihn, um ihm endlich zu geben, was ihm zustand! Er spürte, wie es seine Arme ausstreckte, zuerst nur wenige, dann immer mehr, Hunderte, um die Welt in Besitz zu nehmen, die Welt, die ihm zustand...
Dann, plötzlich, sah er wieder das Gesicht der Priesterin vor sich. "Das hättest du nicht tun sollen", hörte er seine eigene Stimme sagen.
Dann wurde ihm Schwarz vor Augen.