Während sie gemeinsam Lucas Hebemechanismus betätigten, dachte Will über Arjens Worte nach. Ja, das war keine gute Vorstellung gewesen, die er sich da vorhin geleistet hatte; es war unnötig gewesen, seinen Ärger so deutlich zur Schau zu stellen und hinterher auch noch den Beleidigten spielen, weil man ihm seinen Willen nicht ließ! Solch Kindereien waren in ihrer Lage wahrlich fehl am Platz. Und doch...
Wie schnell der Luca mich verurteilt hat. Wie schnell seine Erleichterung, einen lebendigen Menschen zu treffen, der zudem keiner Räuberbande angehört, in Verachtung umgeschlagen ist! Soll man da nicht zornig werden? Überhaupt: was ist, wenn ich recht habe? Dann liegt der arme Angelo jetzt unter all der Erde und... ich will's mir gar nicht ausmalen! Und all meine Worte haben nichts genutzt. Darf ich mich Dichter schimpfen, mich rühmen, den Menschen die Wahrheit näherzubringen, wenn meine Worte derart kraftlos sind, wenn sie derart missverstanden und überhört werden? Am Ende kommt es gar nicht auf die Worte an, sondern nur darauf, WER sie sagt. Ein Schauspieler, ein Dichter, ein Vagant! Was kann der schon zu sagen haben, das man ernst nehmen müsste? Zur Hölle mit euch ehrbaren Bürgern!
Oben angekommen, verpuffte die Wut, in die Will sich hineingesteigert hat, schlagartig mit Lissas Begrüßung und ihrer naiv-unschuldigen Frage. Er blickte Luca nach, wie er sich mit seiner Tochter nach hinten verzog, um ihr die Bedeutung von 'Tod' zu erklären. Das muss schwer sein, so behütet wie die beiden bisher aufwuchsen. Meinen Kindern könnt' ich einfach sagen, der hat ins Gras gebissen, und sie würden's verstehn beinah ebenso gut, wie ich's versteh.
Er ging zu Angelos Bett hinüber, starrte dort, naserümpfend und für einen Moment unschlüssig, die besudelte Matratze an, bevor er sie kurzerhand umdrehte. Dann kramte er Angelos Beutel und Halstuch aus der Tasche seines Wams, zog die Brieftasche hervor, die er sich unter den Gürtel geklemmt hatte, und setzte sich auf das Bett des soeben Verstorbenen.
Als erstes kippte er den Beutel aus und durchwühlte den Inhalt. Wieviel Geld hatte Angelo dabeigehabt? Nur einheimische Münzen oder auch ausländische? War sonst noch irgendwas dabei, was Will im Beutel eines Mannes erwarten würde: Würfel, Knöpfe, ausgeschlagene Zähne? Danach untersuchte er das Halstuch, indem er zunächst daran roch. Sah es nur so aus wie ein Damenhalstuch oder roch es auch nach einem weiblichen Parfüm? Hatte Angelo es vielleicht als Liebespfand getragen? Will untersuchte auch die Stoffqualität: teuer? billig? einheimisch? ausländisch? Handarbeit? Bestickt? Wenn ja, wie geschickt waren die Finger? Schließlich breitete er das Tuch dann auf dem Bett aus, um etwaige Muster in ihrer Ganzheit zu erfassen.
Als letztes nahm er sich dann die Brieftasche vor. Während er sie öffnete und die einzelnen Schriftstücke auf dem Tuch ausbreitete, wandte er sich an Arjen.
"Was du vorhin sagtest... Also für mich gab's bislang einen einzigen Grund, warum ich in den Spiegel geschaut habe, nämlich um zu überprüfen, ob Kostüm und Maske richtig sitzen. Mein Gewissen hat mich in meinen zweiunddreißig Jahren noch nie geplagt, vielleicht weil ich noch niemals für irgendwen außer mich selbst die Verantwortung getragen habe. Mit Lissie und den Kindern leb ich erst seit einem Jahr zusammen und fing gerade erst an, mich zuständig für ihr Wohl zu fühlen. Natürlich ist man beim Theater auch immer mitverantwortlich für das Wohl und das Brot der anderen—man muss seine Werke rechtzeitig abliefern und auf der Bühne Leistung bringen—aber wenn ich da mal einen Fehler gemacht habe, gab's ein paar schadenfrohe Lacher aus dem Publikum, ein bisschen faules Obst flog, und Ben Heywood hatte am nächsten Tag seinen Spaß beim Verfassen bissiger Spottschriften. Es ging niemals um Leben und Tod."
Will blickte eine Weile lang auf die ausgebreiteten Papiere, ohne wirklich etwas zu sehen. Etwas leiser, damit die kleine Lissa es nicht hören musste, sprach er weiter:
"Er ist direkt neben mir gestorben. Als Soldat bist du es wahrscheinlich gewohnt, dass links und rechts deine Kameraden hopps gehen, und nach sechs Jahren fragst du dich vielleicht nicht einmal mehr, ob du es noch hättest verhindern können, wenn du nur schneller reagiert hättest. Für mich ist das... neu. Und dann fangen die Gedanken an zu kreisen. Wenn ich nur vorher nach ihm geschaut hätte! Wenn ich nicht so vertieft auf mein Geschreibsel gewesen wäre! Wenn ich nur nach der Premiere gleich nach Hause gegangen wäre statt noch ins Wirtshaus!"
Und damit war Will wieder bei dem angelangt, was ihn wirklich plagte, oder jedenfalls mehr als Angelos Tod, welcher nur ein weiteres Symptom derselben Krankheit war.
"Wie soll man damit leben, dass man womöglich schuld hat am Tod jener, die man liebt? Dass sie noch leben könnten, wenn man nur dies oder jenes getan hätte... eine Viertelstunde früher... ein Ale weniger..."
Wills Blick glitt zu Luca hinüber, der bei seinen Töchtern saß und in einer ähnlichen Gedankenschleife stecken mochte, nur dass er Gewissheit hatte, dass seine Frau tot war. Warum habe ich nicht gleich zur Waffe gegriffen, als wir die Geräusche hörten? Warum ließ ich Helena ans Fenster gehen? Warum habe ich sie nicht rechtzeitig zurückgerissen?
Und Arjen? Seine Frau und Sohn waren offenbar ermordet worden, mehr hatte er nicht gesagt, aber die genauen Umstände dürfte wenig daran ändern: auch er musste sich einen Teil der Schuld geben. Warum habe ich nicht...?
Wie hatte Will vorhin erst geschrieben? So hat in einer einz'gen Nacht, das Schicksal alle Menschen gleich gemacht. Das seltsame war, dass er dies tatsächlich glaubte—eigentlich schon immer geglaubt hatte, dass es so sein müsste—und dennoch brachte er es nicht über sich, Luca jetzt die Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken.
Mein ewiges Dilemma: hehre Ideale hab' ich zuhauf; allein, um danach zu leben fehlt mir der Charakter.
"Klar stecken wir alle in derselben Scheiße. Klar haben wir ähnliche Erlebnisse hinter uns und machen uns deswegen wohl auch ähnliche Vorwürfe, und doch entstammen wir grundverschiedenen Verhältnissen. Ich mag nicht sonderlich ehrbar sein, aber die Ehre lass ich mir nicht absprechen. Noch weniger den Verstand. Dabei geb ich gern zu, dass ich genauso schnell mit meinem Urteil zur Hand war. Aber wenn wir überleben wollen, sollten wir uns vielleicht weniger mit den vermeintlichen Charakterschwächen des anderen aufhalten und mehr auf dessen Fertigkeiten und Vorzüge schauen."
Er wandte sich an Luca, der mit seinen Erklärungen offenbar durch war und Will während der letzten Worte beobachtet hatte. "Ihr mögt es mir nicht zutrauen—ich hätte es mir selbst bis vor einem Jahr nicht zugetraut—aber ich habe tatsächlich ein großes Herz für Kinder. Ihr dürft darauf vertrauen, dass komme was wolle, ich alles daransetzen werde, die euren zu beschützen."
So, das war das beste, was er anzubieten hatte. Wenn das zur Versöhnung nicht reichte, hatte es keinen Zweck, dass Will hier blieb. Da würde man am End einander an die Gurgel gehen. Er jedenfalls wollte sich nun endlich dem Studium der Briefe oder Dokumente widmen.