Einstieg für Hogni und Varish
TERRA
Norwegen - das Zeitalter der Götter
Der eisige Wind pfiff sein verstörendes Lied zwischen den Ästen. Die Schneeflocken tänzelten wild über den Baumkronen des kleinen Waldes und nahmen in einem dichten, schrägen Vorhang den beiden Männern die Sicht dermaßen, dass nicht einmal mehr zehn Schritt zu überblicken waren. Um den Bart des Skalden und die Augenbrauen beider Männer hatten sich dünne Eismäntel gelegt und der Schnee färbte ihre Umhänge weiß. Beide hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen und einen Schal um Nase und Mund gewickelt, um die Gesichter so gut es ging vor den Gezeiten zu schützen. Ihre Schritte waren langsam und schwerfällig, die Beine gruben sich bereits knietief in den beängstigen schnell anwachsenden, nachgiebig weichen Schneeteppich. Nicht mehr lange, und sie würden keinen Schritt mehr tun können.
Hogni und Varish stiegen oft die Hügel hinauf und durch das Dickicht der Bäume zu der hochgelegenen Lichtung über dem Bergfried des Jarls. Der Waldläufer kannte jeden Baum und jedes Geschöpf in diesem Wald und der Skalde hatte mindestens ein Dutzend seiner Erzählungen und Heldenlieder auf dem Baumstamm der vor vielen Jahren umkippten Eiche sitzend perfektioniert. Doch an diesem eisigen Januarmorgen hatten sie den Schneesturm nicht kommen sehen – und er kam schneller und war gewaltiger, als jeder andere, an den sich die beiden Männer erinnern konnten.
Links von den beiden brach ein armdicker Ast von einer ausgewachsenen Eiche und wurde mit Wucht den Hügel hinab getrieben. Alle paar Sekunden hörten sie um sich herum splitterndes Holz. Der Wind und der Schnee nahmen ihnen jede Sicht – sie wussten nicht, ob der nächste abgebrochene Stumpf nicht von einem Baum vor ihnen stammen und ihnen mit tödlicher Wucht entgegenkommen würde. Dann, auf einmal, übertönte ein tiefes Knurren den Wind, das immer lauter wurde. Als die beiden Männer zur Seite schauten, sahen sie, wie eines der größten Bäume, sich langsam zu ihnen neigte und die Wurzeln aus dem Boden gerissen wurden. Ein Schatten, wie ein breiter Strich, fiel auf sie und der Eichenstamm, der ihn warf, raste darauf herab. In letzter Sekunde konnte Varish seinen Kameraden mitreißen; die beiden landeten im weichen Schnee und spürten, wie nur eine Elle von ihnen entfernt die Eiche auf den Waldboden krachte und sie mitsamt der Schneedecke einen Dutzend Fuß weiterschob. Geäst regnete hinab und spickte das Weiß mit schwarzen Strichen.
Als die beiden Männer aufschauten, erkannten sie einen kleinen Felsvorsprung, der von oben und zwei Seiten Schutz bot. Es war klar, dass sie den Weg zurück zum Dorf in diesem Sturm nicht mehr schaffen würden. Mit letzter Kraft schleppten sie sich zum schützenden Felsen und gruben sich eine Mulde im Schnee. Varish schaute besorgt in den Himmel, doch schon bald landete Krawl auf seiner Rechten und zog sich danach ebenfalls in den Schutz des Felsens zurück.
So harrten die beiden Männer aus, dicht aneinander gedrängt, um einander zu wärmen und ohne Gefühl für die Zeit. Um sie herum tobte der Sturm weiter, als würden die Götter selbst ihren Zorn an Norwegen auslassen. Mehrere große Bäume wurden aus dem Boden gerissen und richteten beim Fallen Verwüstungen an und einmal knallte ein großer Ast auf das Dach ihrer Notunterkunft unter und flog dann in einem geraden Strich aus dem Blickfeld. Es mochten mehrere Stunden oder nur deren eine halbe vergangen sein, als der Sturm endlich nachzulassen begann. Immer noch fiel Schnee, doch die Flocken flogen nun nicht mehr fast senkrecht, sondern leicht schräg nach unten. Der Wind hatte sich so weit beruhigt, dass man das eigene Wort wieder verstand und auch die Sicht verbesserte sich zusehends.
Endlich trauten sich Varish und Hogni hervor. Als sie aus der Mulde kamen brach die Wolkendecke an einigen Stellen auf und Sonnenstrahlen mischten sich in das Schneegestöber. Die beiden waren abgekämpft und müde. Es schüttelte sie vor Kälte und ihre Glieder schmerzten, doch der Anblick war so schön und so selten, dass beide lächeln mussten. Und dann plötzlich legte sich ein Schatten über sie. Krawl kreischte entsetzt auf und breitete die Flügel auf Varishs Arm aus, jedoch ohne abzuheben. Immer wieder schlug der Adler Alarm und auch andere Tiere des Waldes – Vögel und anderes – verfielen in ängstliches Klagen. Eine Kakophonie der Waldgeräusche erhob sich.
Besorgt schauten Hogni und Varish nach oben – und erstarrten gebannt. Über Ihnen verdeckte der Umriss eines riesigen Fliegers die Sonne. Ein langgezogener, wendiger Hals wurde von einem Dornenbewährten Kopf gekrönt. Grelle Augen leuchteten wie Topaze und aus den Nüstern stieg Rauch auf. Der mächtige Schwanz der Kreatur schnitt energiegeladen durch den Himmel und die breiten Fledermausflügel schlugen mit Macht. Der Schatten der Schwingen fiel auf einer Breite von nahezu Hundert Fuß über die Baumkronen des Waldes. Dann riss der Drache sein Maul auf und gab einen langgezogenen, schrecklichen Schrei von sich, der den beiden Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Mit mächtigen Flügelschlägen begann er sich zu entfernen – die Silhouette wurde immer kleiner und kleiner am Himmel, doch der Waldläufer und der Skalde, konnten nur gebannt stehen und ihr nachschauen. Dann plötzlich, hörten beide ein Summen – zunächst leise, fast unhörbar, wuchs es in seiner Lautstärke schnell heran. Gleichzeitig begannen die Umrisse des Waldes um sie herum zu verschwimmen. Das Summen wuchs an zu einem lauten Schallen und das Bild vor ihren Augen verwandelte sich in einem Mahlstrom. Hogni schloss die Augen, während Varish seine Hände gegen seine Ohren drückte, doch es half alles nicht. Plötzlich hatten beide das Gefühl, dass eine unsichtbare Hand sie packte und mit sich zog. Das Summen verklang und der Mahlstrom verwandelte sich in vollkommene Schwärze – sie tauchten in vollkommen stille und dunkle Leere hinab.